Früher oder später wird jemand für die Kriegsschäden in der Ukraine aufkommen müssen. Für manche ist klar: der Angreifer selbst. Und tatsächlich befinden sich über 200 Milliarden Euro russische Gelder eingefroren in der EU. Geld, das die EU nicht einfach verwenden darf. Nun möchte die EU stattdessen die Zinserträge der eingefrorenen Gelder einziehen – das wären 2 bis 4 Milliarden Euro pro Jahr für die Ukraine.
Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, spricht über die völkerrechtlichen Hintergründe zum angedachten «Zinstrick» der EU.
SRF News: Die EU will nicht ans russische Geld, sie will «nur» an die Zinserträge. Was sagt das Völkerrecht dazu?
Oliver Diggelmann: Die Ukraine hat völkerrechtlich einen Anspruch auf Ersatz von diesen Kriegsschäden. In so einer Situation ist die Versuchung natürlich gross, zu sagen: Da hat es russisches Staatsgeld. Warum nehmen wir nicht das oder zumindest ein bisschen davon?
Nach herkömmlicher Lesart ist das mit den Zinserträgen nicht legal.
Fremdes Staatsvermögen ist völkerrechtlich nicht vor vorläufigen Einfrierungen geschützt. Das Völkerrecht möchte, dass Russland einen Anreiz hat, den Krieg zu beenden. Doch dieses fremde Staatsvermögen ist vor definitiven Konfiskationen geschützt. Letztlich, um zu verhindern, dass jeder Staat bei einem völkerrechtlichen Disput mit jemandem sagt: Wir nehmen jetzt einen Teil von dem Staatsgeld des anderen, das auf unseren Banken lagert.
Ist die neue Idee mit den Zinserträgen legal?
Nach herkömmlicher Lesart ist das nicht legal. Hier greift die Immunität der Staaten, die auch das fremde Staatsvermögen erfasst. Die EU aber sagt, es gebe nicht nur Zinsen von fremdem Staatsvermögen, sondern auch die Zinsen, die entstehen, wenn man eingefrorenes Vermögen selber nimmt und dann investiert. Doch das sei eine andere Art von Zinsen – und das ist natürlich ein bisschen eine Schlaumeier-Unterscheidung, wenn man ehrlich ist.
Auch in der Schweiz liegen eingefrorene russische Gelder. Sollte sich die Schweiz der Idee der Europäischen Kommission anschliessen, wenngleich die Sache nicht ganz sauber ist?
Wenn sich die Schweiz an einem solchen Waffenbeschaffungsmechanismus beteiligt, werden neutralitätsrechtliche Fragen aufgeworfen. Entsteht der Eindruck, die Schweiz könne in dieser Kriegssituation profitieren, indem sie sich nicht solidarisch zeigt, kann der Druck immens werden, wie wir schon vor zwei Jahren erfahren haben.
Welche anderen Lösungen gäbe es?
Die Schlüsselfrage ist: Gäbe es mit Blick auf Staatsvermögen nicht eine Möglichkeit, die Staatenimmunität für den Extremfall – wie bei einem glasklaren Angriffskrieg – mit einem gemeinsamen internationalen Reparationsmechanismus aufzuknacken und so das Völkerrecht ein Stück weit weiterzuentwickeln?
Fremdes Staatsvermögen ist völkerrechtlich nicht vor vorläufigen Einfrierungen geschützt, aber vor definitiven Konfiskationen.
Das Entscheidende für so etwas wäre eine breite Koalition, was im Moment angesichts der Spaltung der Welt illusorisch ist. Auch bräuchte es eine klare Begrenztheit auf einen klar definierten Ausnahmefall, damit die Staatenimmunität im Grundsatz erhalten bleibt. Es bräuchte eine klare Regelung, wofür man die Gelder verwendet, nämlich typischerweise für den Wiederaufbau.
Gäbe es für die Schweiz die Möglichkeit, eine spezielle Rolle einzunehmen?
Die Schweiz ist von ihrem Wesen her prädestiniert, ein diskreter Broker im Hintergrund zu sein – wegen ihres Gewichts im Finanzbereich, wegen ihrer Neutralität und wegen ihrer seriösen und angesehenen Diplomatie.
Das Gespräch führte Wasiliki Goutziomitros.