Die Schweiz wolle russische Städte bombardieren lassen – diese Lüge verbreitete das russische Staatsportal «Russia Today» diesen Sommer. Durch die Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock geriet die Schweiz verstärkt ins Visier der russischen Propaganda und Desinformation. Der Journalist Thomas Franke, Co-Autor von «Putins Gift. Russlands Angriff auf Europas Freiheit» ordnet die Situation im «Tagesgespräch» ein.
SRF News: Es gibt das Narrativ, der Westen habe ein Interesse am Krieg in der Ukraine und eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine kurz nach Ausbruch des Krieges vereitelt. In Ihrem Buch erklären Sie, dass diese Aussage falsch ist. Warum?
Diese Einigung hat nie stattgefunden. Es gab ein Arbeitspapier, aber es wurde nie etwas unterschrieben. So wie die Verhandlungen dargestellt werden und so wie die Zitate der Beteiligten aus dem Zusammenhang gerissen werden, entsteht ein völlig falsches Bild. Im Frühjahr 2022 waren die Verhandlungen mit Sicherheit noch nicht so weit, dass ein Friedensabkommen hätte unterzeichnet werden können. Und dennoch wird es in vielen Talkshows so behauptet.
Bei der russischen Propaganda [...] werden Fakten in Frage gestellt oder sogar verdreht. Es werden Dinge behauptet, die nicht stimmen, das sind nicht einfach ‹andere Meinungen›.
Journalistinnen und Journalisten handeln nach dem Gebot der Ausgewogenheit. Ist es dann nicht wichtig, dass jede Position diskutiert wird?
Ausgewogenheit bezieht sich klassischerweise auf Sachthemen, zu denen es unterschiedliche Meinungen geben kann. Da ist es wichtig, dass Journalistinnen und Journalisten beide Seiten gleichberechtigt zu Wort kommen lassen und dass auf der gleichen Faktenbasis diskutiert wird.
Bei der russischen Propaganda und der Menge an Lügen, die aus Moskau kommt, haben wir es mit etwas anderem zu tun. Hier werden Fakten in Frage gestellt oder sogar verdreht. Es werden Dinge behauptet, die nicht stimmen, das sind nicht einfach «andere Meinungen». Lügen bekommen so einen viel zu grossen Raum, ohne genügend eingeordnet werden zu können. Wir Journalisten sind angehalten, Dinge nicht zu kommentieren. Das ist ein Problem für Medienschaffende.
Wenn Medien nicht über diese Positionen berichten, kann man ihnen vorwerfen, dass sie etwas verschleiern wollen. Ein Dilemma?
Absolut, und ich habe ehrlich gesagt auch keine Lösung. Wir als Journalisten hätten eigentlich eine Art Gatekeeper-Funktion, wir entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht. Heute kann aber jeder alles in Social Media posten. Das ist ein grosses Problem, denn wer von den Bürgerinnen und Bürgern ist noch in der Lage, die Informationen richtig einzuschätzen?
Selbst wir als Profis, die das jeden Tag machen, haben Schwierigkeiten, zwischen Desinformation und Fakten zu unterscheiden. Es passiert uns allen, dass wir uns von Informationen im Internet täuschen lassen. Der Kreml hat das nahezu perfektioniert. Sie bauen Internetauftritte seriöser Medien nach und veröffentlichen dort gefälschte Artikel. Nur wer die Seite genau studiert, sieht, dass es nicht die Originalseite ist.
Es gibt auch den Vorwurf an den Westen, auch die USA verbreiteten Propaganda. Wo ist da der Unterschied?
Die Frage ist: Was definieren wir als Propaganda? Inwieweit beruht sie auf Fakten? Das müssen wir von Fall zu Fall beurteilen. In den USA gibt es im Zweifelsfall Journalisten, die das aufdecken können und uns deutlich machen, dass hier etwas nicht stimmt.
Aus dem Tagesgespräch mit Simone Hulliger, Mitarbeit Géraldine Jäggi.