Vor einer Woche marschierten schwer bewaffnete Wagner-Truppen Richtung Moskau. Was folgt aus diesem Ereignis? Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin, ordnet die Ereignisse ein.
SRF News: Wenn Sie an das vergangene Wochenende zurückdenken – was war für Sie die grosse offene Frage?
Gwendolyn Sasse: Die Hauptfrage war, ob und in welchem Ausmass sich Eliten aus der russischen Armee, dem Sicherheitsapparat den Wagner-Truppen anschliessen würden und ob somit dann aus dieser Bewegung gen Moskau mehr hätte werden können. Das war sicher auch für Wagner-Chef Prigoschin die Hauptfrage. Er hat dann entschieden, den Vormarsch abzubrechen, als deutlich wurde, dass es nicht genug Unterstützung gibt. Aber die Tatsache, dass man so weit gekommen ist, zeigt, dass sich zumindest auch wichtige Eliten dem nicht entgegengesetzt haben.
Aber funktionierten die Loyalitäten? Hielt bzw. hält der Sicherheits- und Militärapparat zu Putin?
In grossen Teilen. Doch allein schon der Umstand in Rostow das Militärkommando übernehmen zu können, heisst ja, dass man vor Ort in Rostow davon wusste, dass das passiert und sich dem nicht entgegengestellt hat. Dann auch so weit gen Moskau zu kommen, zeigt wie auch im Militär und im Sicherheitsapparat eher zugeschaut haben. Viele haben sich nicht klar positioniert.
Es sind erste Risse im System öffentlich deutlich geworden. Aber im Grossen und Ganzen hält das System noch.
Die Loyalitäten werden wohl nicht alle auch auf Dauer noch halten. Es sind erste Risse im System öffentlich deutlich geworden, aber im Grossen und Ganzen hält das System noch. Wir können davon ausgehen, dass Putin alle Anstrengungen darauf verwenden wird, dass sich dieses Szenario mit Privatarmeen und Gewaltakteuren, die sich gegen das System wenden, nicht wiederholen kann.
Kann Putin gegen die eigenen Leute vorgehen, wenn es vielleicht doch relativ viele sind?
Wir wissen nicht, wie viele es sind. Wir wissen auch nicht, was zum Beispiel die russischen Soldaten an der Front überhaupt mitbekommen von dem, was passiert ist. Zudem kann nicht beurteilt werden, wie hoch die Unterstützung für Putin innerhalb der russischen Armee ist.
Was wir letztes Wochenende gesehen haben, ist ein Gefühl von Instabilität. Das ist ein Risiko für einen autoritären Machthaber wie Putin.
Wir haben aber Bilder gesehen, die zeigen, wie Prigoschin und seine Truppen als Kriegshelden verehrt werden. Das bedeutet, dass im Umkehrschluss Putin nicht auf die Unterstützung aller, die am Krieg beteiligt sind, wetten kann. Aber darüber hinaus sehen wir momentan keine wirkliche liberale Opposition, die übrig geblieben wäre und sich Gehör verschaffen könnte. Wir sehen auch in der Gesellschaft eher den Wunsch nach Stabilität.
Was wir letztes Wochenende gesehen haben, ist ein Gefühl von Instabilität. Das ist ein Risiko für einen autoritären Machthaber wie Putin. Es wird von der Gesellschaft, auch einer autoritär geprägten Gesellschaft, als eine Gefahr wahrgenommen.
Sowohl die Eliten als auch die Gesellschaft sehen momentan keine klare politische Alternative zu Putin, für die man dann wirklich die Loyalitäten wechseln würde. Meines Erachtens muss auch ein irgendwie gestalteter Wandel auf der Ebene der Eliten beginnen. Die Gesellschaft selbst ist so lange so vorgeprägt worden, dass das Momentum nicht von dort kommen wird. Aber allein dieses Gefühl von Instabilität, das hinterlässt einen Riss und vielleicht ein wackeliges Vertrauen in die jetzige Führung.
Das könnte in einem autoritären System zum Problem werden?
Auf jeden Fall. Das muss ein autoritärer Machthaber fürchten. Denn von Stabilität hängt alles ab. Putin muss sich so inszenieren, dass er als die Person wirkt, die die Kontrolle über die Ereignisse hat.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.