Nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, grenzt sich nun die Ukraine bewusst vom Nachbarland ab. So hat Präsident Selenski ein Gesetz unterzeichnet, das die Änderung sämtlicher russischer Ortsnamen vorsieht. Und wer die ukrainische Staatsbürgerschaft bekommen möchte, muss Kenntnisse der Geschichte der Ukraine nachweisen. Das Gesetz tritt in drei Monaten in Kraft. Auslandredaktor David Nauer berichtet von seinen Erfahrungen in Kiew als russischsprechender Ausländer, der auch Ukrainisch versteht.
Merkt man in der Ukraine schon etwas von diesem Vorhaben?
In Kiew hat niemand ein Problem damit, dass ich mit den Menschen Russisch spreche. Mir ist aber aufgefallen, dass in verschiedenen Städten, auch in Kiew, die meisten Leute nicht mehr wie früher auf Russisch antworten, sondern auf Ukrainisch, seien es nun Kellner, Interviewpartnerinnen, Taxifahrer usw. Viele Leute sprechen aus Prinzip nur noch Ukrainisch. Ausnahmen gibt es. Russisch ist in der Ukraine nicht verboten, aber Ukrainisch ist stark auf dem Vormarsch.
In welchen Momenten sprechen Ihre Gesprächspartner eher Russisch, wann Ukrainisch?
Es gibt schon Leute, die gerne Russisch mit mir sprechen, die vielleicht sogar Russisch als Muttersprache haben. Aber sobald ich das Mikrofon hervornehme, wechseln sie auf Ukrainisch. Es ist die Regel, dass man Ukrainisch sprechen soll, wenn man eine staatliche Institution vertritt.
Hält sich die Bevölkerung an die Sprachvorgabe der Regierung?
Viele halten sich daran und sprechen in öffentlichen Situationen Ukrainisch. Mein Eindruck ist, dass es die meisten freiwillig machen. Jemand hat mir erzählt, dass die ihren Familienchat auf Ukrainisch umgestellt hätten. Solche Beispiele gibt es viele. Der Grund ist klar: die Abgrenzung von Russland. Russland bombardiert nach wie vor täglich ukrainische Städte. Es gibt Zehntausende Ukrainerinnen und Ukrainer, die getötet wurden. Deswegen verwenden viele die Sprache des Aggressors nicht mehr.
Was machen Familien, die Verwandte in Russland haben?
Viele haben mir gesagt, dass sie den Kontakt zu ihren Verwandten, die in Russland leben, abgebrochen haben. Zum Teil, weil diese den Krieg befürworten. Zum Beispiel hat mir jemand erzählt, dass er seine Schwester aus dem Bombenkeller angerufen habe. Die Schwester lebt in Moskau. Er habe ihr gesagt: «Wir werden von euch bombardiert, von den Russen.» Da habe ihm seine Schwester gesagt: «Du lügst!» Sie habe im Fernsehen gesehen, dass das nicht stimme. Das Fazit, das Ukrainerinnen und Ukrainer aus solchen Erfahrungen ziehen: Wir verstehen uns nicht mehr mit den Leuten, die in Russland leben, selbst wenn es unsere Verwandten sind.
Wie deuten Sie diese Veränderung im Land?
Wir beobachten das Erwachsenwerden einer Nation. Die Ukraine als Nation gibt es schon lange. Jetzt findet sie so richtig zu sich selbst. Sie schüttelt quasi das Erbe des russischen Imperiums ab, auch sprachlich. Wenn man durch Kiew spaziert, dann tönt die Stadt nun nicht mehr postsowjetisch. Vom Klang her hat das Ukrainische etwas vom Polnischen; man wähnt sich schon fast in Mitteleuropa, in Polen. Eigentlich kann man sagen: Niemand hat je so viel getan für die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins und auch für die Stärkung der ukrainischen Sprache wie Wladimir Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine.