Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt sich: Die Russen tun sich schwer mit dem Einsatz modernster, digitaler Informationsmittel im Krieg. Die Ukrainer dagegen nutzen vielfältige digitale Technologien zur Aufklärung und Bekämpfung der Invasoren. Der Experte Stefan Soesanto weiss mehr darüber.
SRF News: Westliche Militärexperten sagen, Russland kämpfe immer noch so analog wie im Ersten Weltkrieg – während die Ukrainer stark digitalisiert seien. Ist der Unterschied wirklich so gross?
Stefan Soesanto: Ja, er ist immens. Die Ukraine hat sich in diesem Kriegsjahr enorm digitalisiert, während Russland dabei Schwierigkeiten zeigt. Auf ukrainischer Seite kommt viel Unterstützung zur modernen, digitalisierten Kriegsführung auch von privater Seite und von Freiwilligen. Ziel ist die vernetzte Kriegsführung (Network-centric Warfare).
Welche digitalen Mittel verwendet die Ukraine?
Im Zentrum steht das System Delta. Die digitale Plattform beschreibt das Lagebild auf dem Kriegsschauplatz in Echtzeit. In dieses System fliessen alle vorhandenen Daten ein. Sie stammen etwa von Fronteinheiten, Freiwilligen hinter den russischen Linien oder vom Geheimdienst.
An der Front können sich Kampfeinheiten auf einem Tablet einen Überblick über die Stellungen der feindlichen Verbände verschaffen.
Diese mit all den Daten gefütterte Karte wird auch an den Frontlinien genutzt. Dort können sich die Kampfeinheiten per Internet – oftmals ermöglicht durch das Starlink-System – auf einem Tablet einen Überblick beispielsweise über den aktuellen Standort von feindlichen Verbänden in ihrer Nähe verschaffen. Aufgrund dieser Informationen werden dann Kampfentscheidungen getroffen.
Über welche digitalen Mittel verfügen die Russen?
Wahrscheinlich nutzen sie auch digitale Mittel, doch ihnen fehlt die typische Silicon-Valley-Attitüde, die in der Ukraine vorherrscht. Nicht zuletzt angesichts der massiven Auswanderung von russischen IT-Spezialisten nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine dürfte es den Russen in nächster Zeit zudem schwerfallen, hier aufzuholen.
Die Ukraine ist in der Defensive, trotz ihrer starken digitalen Mittel. Sind diese also doch nicht kriegsentscheidend?
Die digitalen Mittel sind sehr entscheidend darin, dass die Ukraine die Wirkung ihrer konventionellen Mittel erhöhen kann. Sie braucht also beides: ausreichend Waffen und Munition sowie die digitalen Aufklärungsmittel. Letztere leisten einen wichtigen Beitrag, um die Balance auf dem Kriegsfeld für die Ukraine entscheidend zu prägen.
Können die digitalen Vorteile der Ukraine zum Sieg auf dem Schlachtfeld verhelfen, obschon die Russen bei den konventionellen Kriegsmitteln massiv überlegen sind?
Derzeit operieren erst einige Einheiten der ukrainischen Armee gemäss der Nato-Doktrin der vernetzten Kriegsführung. Ziel ist es, dass möglichst alle Einheiten diese Fähigkeit erlangen. Erst dann wird man sehen, inwieweit die Ukraine die Vorteile der vernetzten Kriegsführung tatsächlich ausspielen kann.
Möglichst alle ukrainischen Einheiten sollen gemäss der Nato-Doktrin der vernetzten Kriegsführung operieren.
So könnte es durchaus sein, dass die Ukraine die Russen wegen ihrer Effektivität auf dem Kriegsfeld zurückdrängt – und den Krieg vielleicht gewinnt.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.