Israel verweigert Medienschaffenden seit Kriegsausbruch den unabhängigen Zugang zum Gazastreifen. Doch Hilfsorganisationen können weiterhin einreisen. So auch die Verantwortliche für den Nahen Osten beim UNO-Welternährungsprogramm, die Schweizerin Corinne Fleischer. Sie war soeben zum ersten Mal seit der Waffenruhe wieder in Gaza.
SRF News: Soeben sind Sie aus Gaza zurückgekehrt. Was sind Ihre Eindrücke?
Corinne Fleischer: Es herrscht eine unglaubliche Stimmung auf den Strassen. Es fühlt sich an, als ob die Menschen ihr Leben, das sie für 15 Monate in einer Schublade verstauen mussten, nun wieder leben können. Die Menschen haben grosse Hoffnung, dass sie in ihre Gebiete zurückkehren können. Nicht in ihre Häuser, diese sind ja zerstört – aber zumindest auf ihr Land. Es gibt aber auch eine grosse Unsicherheit bezüglich der Zukunft und eine grosse Angst, dass diese Waffenruhe nicht hält.
Der Kontrast könnte grösser nicht sein: einerseits diese unglaubliche Stimmung seit der Waffenruhe, andererseits die Zerstörung.
Nach rund 15 Monaten Krieg im Gazastreifen sollen laut Schätzungen 60 bis 90 Prozent aller Gebäude entweder beschädigt oder zerstört sein. Wie gross war die Zerstörung, die Sie vor Ort gesehen haben?
Gaza ist flach. In den zentralen Gebieten wie Deir el-Balah gibt es zwar noch Häuser, aber im Norden ist alles flach – und im Süden, in Rafah, ebenfalls. Der Kontrast könnte grösser nicht sein: einerseits diese unglaubliche Stimmung seit der Waffenruhe, andererseits die Zerstörung.
Monatelang gab es Probleme mit den Hilfslieferungen. Was brauchen die Menschen jetzt am dringendsten?
Sie brauchen jetzt Nahrungsmittel, Medizin, Gesundheitsversorgung und – wenn sie in den Norden gehen – Zelte. Denn sie können ja nicht in ihre Häuser zurück.
In den letzten Monaten gab es immer wieder Berichte von Plünderungen von Hilfskonvois in Gaza. Wie gross war das Problem für das Welternährungsprogramm?
Es war sehr schlimm. Bewaffnete Clans haben nicht nur unsere Nahrungsmittel gestohlen, sondern auch die Fahrer unserer Lastwagen geschlagen – die mussten teilweise ins Spital. Immer wieder fielen auch Schüsse. Wir hatten wirklich Glück, dass keiner unserer Leute ums Leben gekommen ist. Diese Operation ist die unsicherste, die ich in meinen 23 Jahren beim Welternährungsprogramm bisher gesehen habe.
Hatten Sie deswegen manchmal auch schlaflose Nächte?
Sehr viele, ja. Weil man sich immer wieder fragt: War das richtig? Setzen wir das Leben von Menschen aufs Spiel, wenn wir das machen?
Wir können nicht nicht dort sein, sonst sterben 2.1 Millionen Menschen.
Aus Sicherheitsüberlegungen sollten wir im Prinzip ja gar nicht in Gaza sein, das ist klar. Aber wir können nicht nicht dort sein, sonst sterben 2.1 Millionen Menschen – die brauchen uns.
Wie gehen Sie persönlich damit um?
Es ist eine grosse Last auf den Schultern. Wenn ich etwa vor Ort bin und mit den lokalen Mitarbeitern spreche, weiss ich nicht, ob sie noch da sind, wenn ich das nächste Mal wiederkomme.
Seit vergangenem Sonntag gilt eine Waffenruhe. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Jetzt funktioniert plötzlich alles, worum wir in den letzten 15 Monaten gebeten haben: effiziente Grenzübergänge, effektive Abwicklung, keine Checkpoints und stundenlange Wartezeiten. In den ersten vier Tagen der Waffenruhe konnten wir mehr Nahrungsmittel in den Gazastreifen hineinbringen als zuvor in einem ganzen Monat.
Wie will das Welternährungsprogramm weiter vorgehen in Gaza?
Wichtig ist natürlich, dass wir weiter humanitäre Hilfe hineinbringen können. Wir wollen aber auch gewisse Hilfe leisten beim Wiederaufbau. Und unser Mandat sind natürlich die Nahrungsmittel – da müssen die Märkte stabilisiert werden. Wir planen auch, zusätzliche Familien finanziell zu unterstützen. Daneben wollen wir Mühlen und Bäckereien beim Wiederaufbau helfen.
Die Menschen können nicht mehr und sind erschöpft.
Zum Schluss: Was ist ihr Aufruf an die beiden Konfliktparteien Hamas und Israel?
In erster Linie, dass der Waffenstillstand weitergeht. Jetzt zurückzugehen zum Krieg, das ist unvorstellbar. Einerseits für die Bevölkerung: Die Menschen können nicht mehr und sind erschöpft. Andererseits aber auch für die humanitäre Operation, die geschützt werden muss, damit sie ihre Arbeit effizient machen kann.
Das Gespräch führten Anita Bünter und Jonas Bischoff.