Die Nachrichten in der skandalösen Chatgruppe sind teilweise so vulgär, dass man sie lieber nicht wiederholen möchte. Doch ist es neben dem Inhalt gerade auch der Ton, der ihre Brutalität ausmacht: «Mir scheint, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als diese 26 Millionen Hurensöhne zu erschiessen», lautete etwa eine der Nachrichten, die vom Handy eines pensionierten Divisionärs gesendet wurden und seit rund zwei Wochen in den spanischen Medien kursieren.
Die 26 Millionen beziehen sich auf jene Teile der spanischen Bevölkerung, die dem linken Lager zugerechnet werden.
Chatmitglieder fordern sogar Putsch
«Man müsse den Krebs herausschneiden», heisst es weiter. Die Geschichte müsse sich leider wiederholen. Sprich: der spanische Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur.
Ein anderer hochrangiger Ex-Militär beschreibt, dass er das Hauptquartier einer separatistischen, katalanischen Organisation am liebsten in die Luft jagen würde. Auch die Möglichkeit eines Putschs wird diskutiert, aber verworfen: Ein militärischer Umsturz würde in Spanien und in Europa zum aktuellen Zeitpunkt nicht akzeptiert, kommen die Chatmitglieder zum Schluss.
Verteidigungsministerin nimmt Armee in Schutz
Auf Anfrage von Journalistinnen und Journalisten reagieren die mutmasslichen Beteiligten widersprüchlich: Manche streiten ab, die Nachrichten gesendet zu haben. Andere sprechen von harmlosen Spässen im privaten Rahmen.
Mittlerweile wurde die Gruppe – die ursprünglich rund 40 Mitglieder hatte – aufgelöst. Der Fall wurde vom Verteidigungsministerium an die Staatsanwaltschaft übergeben. Ob er strafrechtliche Konsequenzen haben wird, ist ungewiss.
Beim Ministerium verweist man auf Anfrage von Radio SRF auf ein Interview mit Verteidigungsministerin Margarita Robles, das auf dem spanischen Radiosender «Cadena Ser» ausgestrahlt wurde.
Diese Äusserungen seien beschämend, sagt die Ministerin, «eine Schande für jede Demokratin und jeden Demokraten». Aber: Sie seien in keiner Weise repräsentativ für die spanischen Streitkräfte. Die Ministerin betonte, dass es sich um ehemalige, pensionierte Militärs handle, mit veraltetem Gedankengut. Die heutige spanische Armee sei modern.
Sie bestehe aus 120'000 Frauen und Männern, die sich professionell und selbstlos einsetzten für die spanische Bevölkerung. Die meisten von ihnen seien sehr jung und wüssten vielleicht nicht einmal so genau, wer Francisco Franco überhaupt gewesen sei.
Ehemaliger Armeeangehöriger zweifelt
Marco Antonio Santos hat dafür nur ein müdes Lachen übrig. «Die Ministerin soll einmal den Kasernen einen Besuch abstatten. Dann wird sie schon hören, was dort geredet wird.» 22 Jahre lang hat Santos in der spanischen Armee gedient.
Letztes Jahr wurde er gegen seinen Willen entlassen. Er hatte ein Manifest unterschrieben, in dem er sich explizit vom franquistischen Gedankengut innerhalb der Armee distanzierte. Zudem hatte er sich in den sozialen Medien kritisch über die katholische Kirche und König Felipe geäussert, der Oberbefehlshaber der spanischen Streitkräfte ist.
Mit solchen Meinungen, als Republikaner, Atheist und Demokrat, sei man in der spanischen Armee klar in der Minderheit, sagt Santos. Und von wegen, heute wisse man dort kaum mehr, wer Franco sei: Noch bis 2006 habe in der Militärakademie in Saragossa eine Statue des Diktators gestanden, erinnert Santos.
Die spanische Armee habe ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus – und weigere sich, es anzupacken.
Nicht nur ein Relikt aus der Vergangenheit
Das sagt auch Luis Gonzalo Segura. Der ehemalige Oberleutnant wurde ebenfalls aus der Armee entlassen, bereits 2015. Er hatte als Whistleblower einen Korruptionsskandal auffliegen lassen. Auch vom aktuellen Skandal bekam er noch vor den spanischen Medien Wind: Mehrere Tage, bevor der erste Zeitungsartikel erschien, veröffentlichte Segura bereits Auszüge aus dem Chat auf seinem Twitter-Account.
Das Argument, dass es sich um pensionierte, ehemalige Militärs handle, gleichermassen ein Relikt aus der Vergangenheit, lässt er nicht gelten: «Ich habe Zugang zu mehreren solchen militärischen Gruppenchats. Und in allen herrscht derselbe, rechtsextreme Ton.»
In Kürze werde er Nachrichten aus einem anderen Chat veröffentlichen, kündigt Segura im Gespräch mit Radio SRF an. Das Brisante: Hierbei werde es sich nicht um Nachrichten von ehemaligen, sondern von aktiven spanischen Militärs handeln.
Und er verweist auf ein Video, das seit einigen Tagen in den sozialen Medien verbreitet wird: Es soll aktuelle Mitglieder der spanischen Streitkräfte zeigen, die die sogenannte «Hymne der Blauen Division» singen.
Die Blaue Division war eine Infanterieeinheit, die aus spanischen Freiwilligen bestand und die im Zweiten Weltkrieg die deutsche Wehrmacht unterstützte, also Seite an Seite mit den Nationalsozialisten kämpfte. Für Segura ein weiterer Beleg dafür, dass sich die spanische Armee nicht genügend von ihrer Vergangenheit distanziere und faschistische Haltungen und Überzeugungen weiterhin sehr präsent seien.
Dennoch: Man könnte die Aussagen und Enthüllungen von Marco Antonio Santos und Luis Gonzalo Segura als persönliche Abrechnung zweier enttäuschter, entlassener Ex-Militärs abtun. Denn keine Frage: Spanien ist heute eine moderne Demokratie. Doch dass gerade in der Armee, diesem tragenden Pfeiler des Franco-Regimes, zumindest noch Spuren aus dieser Zeit zu finden sind, ist alles andere als abwegig.
Keine Aufarbeitung in der Armee
Zahlreiche Historikerinnen und Historiker weisen darauf hin, dass es nach dem Tod von Francisco Franco 1975 nie zu einem Bruch kam mit dem alten System, zu keiner Umwälzung, sondern zu einer kontinuierlichen, schrittweisen Transition. Wer beispielsweise während der Diktatur einen hohen Posten in der Armee innehatte, der blieb auf diesem Posten.
Einer dieser Historiker – und womöglich der renommierteste – ist Ángel Viñas. Der 79-Jährige hat mehrere spanische Regierungen beraten, hohe Posten in der EU-Kommission besetzt und Bücher geschrieben, die ganze Regale füllen, die meisten davon über Franco, den spanischen Bürgerkrieg und die Armee. Wichtige historische Dokumente aus der Franco-Zeit hielt er als erster Forscher überhaupt in der Hand.
Es hat in der Armee nie einen klaren, harten Bruch gegeben mit dem Franco-Regime.
Und doch: Selbst er äussert sich vorsichtig zur Frage, wie viel «Franquismo» heute noch in der spanischen Armee stecke. «Mehr als 40 Jahre sind vergangen seit Ende der Diktatur. Da darf man wohl davon ausgehen, dass sich die demokratischen Grundwerte auch in der Armee durchgesetzt haben», sagt Ángel Viñas. «Aber sicher bin ich mir da nicht.»
Denn auch Viñas betont: Die Armee sei eine zentrale Kraft – wenn nicht die zentrale Kraft – gewesen der Franco-Diktatur. Und es habe in der Armee nie einen klaren, harten Bruch gegeben mit dem Regime. Sie habe sich selbstverständlich modernisiert, angepasst, nicht zuletzt wegen des Beitritts Spaniens zur Nato 1982. Doch die die jüngsten Ereignisse und Enthüllungen weisen darauf hin, dass dieser Reformprozess zumindest noch nicht abgeschlossen ist.
Neben den brutalen Nachrichten aus dem Gruppenchat wurden zudem mehrere Briefe publik, ebenfalls verfasst von hohen, ehemaligen Militärs. Zwei waren an den spanischen König adressiert, einer an den Präsidenten des EU-Parlaments. Eindringlich warnen die Unterzeichnenden davor, dass Spanien kurz davorstehe, zu zerfallen. Die linke, «sozialkommunistische» Regierung wolle die Bevölkerung ideologisch indoktrinieren. Sie stelle eine Gefahr für die Einheit Spaniens dar und sei drauf und dran, das Land zu zerstören.
Aktuelle Regierung als nie dagewesene Provokation
Diese Rhetorik kommt Historiker Ángel Viñas nur allzu bekannt vor: «Die genau gleichen Argumente hat man 1936 gehört, vor Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs. Die Warnrufe vor einer roten Welle, die Spanien zu überrollen drohe und die nur ein Mann wie Franco aufhalten könne.»
Doch warum hört man solche Aussagen ausgerechnet jetzt wieder lauter und offener? Ángel Viñas sieht dafür mehrere Gründe: Da ist einerseits die linke Regierung, die relativ fest im Sattel sitzt und die nicht nur aus den Sozialisten besteht, der grossen, linken Traditionspartei, sondern auch aus Podemos, der kleineren, jungen Partei, die noch weiter links steht.
Und: Die Regierung wird gestützt von den separatistischen Parteien aus Katalonien und dem Baskenland. Für rechte, konservative Kreise eine nie dagewesene Provokation.
Offene Bewunderung für Franco
Und dann ist da die Gegenbewegung: Vox. Die Rechtsaussenpartei, die innerhalb von nur zwei Jahren von einer Randerscheinung zur drittstärksten Kraft im nationalen Parlament aufgestiegen ist. Eine Partei, so Viñas, die keinerlei Skrupel habe, ihre Bewunderung für Francisco Franco öffentlich zu zeigen und solche Positionen wieder salonfähig mache.
Vox ist zudem eng verknüpft mit der spanischen Armee. Mehrere Vox-Abgeordnete im Parlament haben einen militärischen Hintergrund. Selbst im skandalträchtigen Gruppenchat wurde diese Verbindung sichtbar.
Santiago Abascal, der Parteichef von Vox, grüsste die Mitglieder des Chats in einer persönlichen Sprachnachricht und schickte ihnen eine «grosse Umarmung».
Aus Ángel Viñas’ Sicht ist es durchaus wünschenswert, dass diese Meinungen und Verbindungen ans Licht kommen. Denn unter der Oberfläche seien sie schon immer dagewesen. Was es brauche in Spanien, sei eine vertiefte, ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen rechtsextremen Strömungen und mit der eigenen Geschichte.