Spaltung in Bosnien - Existenzangst und Landenteignung auf dem Balkan
Im Vielvölkerstaat Bosnien und Herzegowina droht sich die Geschichte blutig zu wiederholen. 27 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Kriegs mit etwa 100’000 Toten erreichen die Spannungen zwischen den drei grossen Volksgruppen – Muslimen, Serben, Kroaten – einen neuen Höhepunkt.
«Dieses Land ist meine Lebensader, sonst habe ich nichts.» Besim Mustafic lässt seinen Blick über sein Feld gleiten. Hier in Rasevo, einem kleinen Dorf mit knapp 500 Einwohnern, ist Mustafic geboren und aufgewachsen. Und hier in diesem kleinen Dorf pflanzt der Bauer Früchte und Gemüse an und züchtet einige Rinder.
00:33
Video
Besim Mustafić:«Seit 120 Jahren gehört das Land meiner Familie.»
Aus News-Clip vom 01.09.2022.
abspielen. Laufzeit 33 Sekunden.
Die Ruhe fernab der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, sie täuscht. Rasevo liegt in der Republika Srpska, einer der zwei Entitäten von Bosnien und Herzegowina. Hier fordert der mächtigste serbischstämmige Politiker, Milorad Dodik, die Unabhängigkeit der Republika Srpska.
Um seine Ziele zu erreichen, schürt der Serbenführer Angst und Hass zwischen den drei Ethnien: den Serben, den Kroaten und den Bosniaken.
Der neue alte Konflikt
Die Behörden der Republika Srpska haben von Besim Mustafic rund eineinhalb Hektaren Land, also etwa ein Fussballfeld, konfisziert. Die Begründung: Das Grundstück, das seit 120 Jahren im Besitz der Familie Mustafic ist, sei illegal erworben worden. Mustafic widerspricht, er habe Dokumente, die beweisen sollen, dass ihm das Land rechtmässig gehört.
Es ist nicht das erste Mal, dass muslimische Bosniaken in der mehrheitlich von christlich-orthodoxen Serben kontrollierten Entität diskriminiert und vertrieben werden.
Im März 1993, während des Bosnien-Kriegs, wurde das Dorf Rasevo komplett zerstört. Die Streitkräfte des damals noch existierenden Jugoslawiens legten es mit ihren Bomben in Schutt und Asche. Und als dann auch noch bosnische Serben das Dorf umzingelten, flüchtete Besim Mustafic mit seiner Familie. Ihr Ziel: Srebrenica.
Der Bosnienkrieg
Box aufklappenBox zuklappen
1991 begann das sozialistische Jugoslawien sich aufzulösen. Den Beginn machten Slowenien und Kroatien. Die damaligen Teilrepubliken erklärten sich für unabhängig. Im Frühjahr 1992 folgte ihnen Bosnien und Herzegowina. Die bosnischen Serben wollten die Abspaltung von Jugoslawien nicht akzeptieren. Sie entfachten einen blutigen Krieg zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken. Rund 100'000 Menschen verloren ihr Leben, und bereits in den ersten drei Kriegsmonaten wurden zwei Millionen Menschen vertrieben.
Srebrenica war der Wendepunkt des Bosnienkriegs. Srebrenica war aber auch eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Geschichte Europas. Vom 11. bis 19. Juli 1995 wurden 8000 Jungen und Männer ermordet. Es war der erste Genozid, auf Deutsch Völkermord, in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die mehrheitlich muslimischen Bosniaken waren alle unbewaffnet und befanden sich in einer von den Vereinten Nationen eingerichteten Schutzzone.
Auch Besim Mustafic befand sich damals in Srebrenica. Beim Fall der Stadt floh er. Rund 15'000 Männer befanden sich zu Fuss auf dem Weg nach Tuzla. Es folgte der sogenannte Todesmarsch. Tausende wurden auf dem Fussmarsch nach Tuzla erschossen. Drei seiner Brüder kamen ums Leben.
Dayton hat den Krieg eingefroren
Box aufklappenBox zuklappen
Das Massaker von Srebrenica führte dem Westen vor Augen, dass er nicht länger zu schauen konnte. So begann die Nato serbische Stellungen zu bombardieren, und gleichzeitig entsandte der damalige US-Präsident Bill Clinton ein Verhandlungsteam. In Dayton, Ohio, kamen die kriegsführenden Parteien zusammen. Nach 21 Tagen unterschreiben die Präsidenten von Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina ein umfassendes Abkommen. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln bis heute, dass die ethnischen Spannungen in Bosnien nicht gelöst, sondern der Krieg nur eingefroren wurde.
Bosniaken sind nicht willkommen
Vier Jahre nach Kriegsende, 1999, kehrte Besim Mustafic in sein altes Dorf, nach Rasevo zurück. Fünf Jahre lang lebte er in einer Ruine. Viel von seinem früheren Zuhause ist nicht mehr übrig. Nach und nach baute er sein Haus wieder auf, kaufte sich mit Hilfe einer italienischen Organisation ein paar Schafe und begann ein neues Leben. Heute leben neun Familienmitglieder unter diesem Dach.
Ich ernähre mit diesem Land meine Kinder und finanzierte ihnen die Ausbildung Das Land gehört mir, meinen Neffen und Nichten.
Es ist die einzige Einnahmequelle, die die Familie hat. Und nun versuchten ihm die Behörden immer mehr Land wegzunehmen, so Besim Mustafic. Allein ist er dabei nicht. «209 Parzellen sind in Rasevo beschlagnahmt worden, das sind zwischen 100 und 140 Hektaren.» Die Besitzer seien alle Bosniaken.
Gerichtlich wollen die enteigneten Landbesitzer gegen das Urteil vorgehen. Falls es in Bosnien und Herzegowina zu keiner Einigung kommen soll, seien sie auch bereit, bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Strassburg zu ziehen. «Wir gehen bis zum bitteren Ende, bis wir endlich Gerechtigkeit erfahren.»
Droht ein neuer Krieg?
Bosnien und Herzegowina ist auch fast 30 Jahre nach dem Krieg noch immer tief gespalten. Die Wunden von damals wollen nicht wirklich verheilen. Und gerade die politische Elite nutzt das gerne aus.
«Der Staat ist dysfunktional und bedient nur noch die Interessen einer kleinen Elite. Und diese politische Klasse ist nicht bereit, zusammenzuarbeiten und Kompromisse zu schliessen», sagt die Historikerin Marie-Janine Calic.
00:23
Video
Marie-Janine Calic: «Der Staat ist dysfunktional.»
Aus News-Clip vom 01.09.2022.
abspielen. Laufzeit 23 Sekunden.
Ein Krieg stehe Bosnien und Herzegowina derzeit aber nicht unmittelbar bevor, meint Calic: «In Bosnien-Herzegowina herrscht eine extrem angespannte Situation. Ein grosser Krieg ist dennoch nicht wahrscheinlich. Vor allem deshalb, weil die Konfliktparteien gar nicht über die militärischen Mittel verfügen. Zudem befindet sich eine internationale Schutztruppe in Bosnien, die Eufor Althea, die wird einen solchen Krieg verhindern. Auch politische Interessen sprechen gegen einen Krieg. Weder die Nachbarn Kroatien und Serbien noch die Parteien in Bosnien haben wirkliche Interessen an einem grossen Krieg.»
Das Schüren von Spannungen zwischen den Volksgruppen ist für die Expertin Calic ein Mittel, um von den eigentlichen Problemen Bosniens abzulenken: von Korruption, Misswirtschaft und fehlenden Zukunftschancen.
Unheilvolle Einflüsse
Box aufklappenBox zuklappen
In Bosnien und Herzegowina – kurz: Bosnien – verschärfen sich die Konflikte zwischen den drei grossen Volksgruppen (muslimischer, serbischer, kroatischer Herkunft). Eine wichtige und oft unheilvolle Rolle spielen dabei die Nachbarstaaten auf dem Balkan und die Grossmächte:
USA: Die USA sorgten mit ihrem Militäreinsatz dafür, dass sich die Parteien im Bosnien-Krieg an den Verhandlungstisch setzten, 1995 den Friedensvertrag von Dayton unterzeichneten und damit das moderne Bosnien begründeten. Doch seither haben die USA ihr Interesse am Land verloren, schrecken vor Einflussnahme zurück.
EU, Kroatien: Aus der EU fliesst noch immer viel Geld ins Land, doch auch die EU nimmt heute weniger Einfluss auf die bosnische Politik als in den Jahren nach dem Krieg. Bosnien hofft seit Jahren vergeblich auf die EU-Mitgliedschaft und wird dabei vom EU-Staat Kroatien unterstützt, der früher wie Bosnien als Teilrepublik zu Jugoslawien gehörte. Doch die kroatische Regierungspartei HDZ unterstützt vor allem die gleichnamige bosnische Schwesterpartei, die sich für Privilegien der kroatischstämmigen Bevölkerung im Wahlgesetz einsetzt.
Serbien, Russland: Der Führer der serbischstämmigen Bosnierinnen und Bosnier, Milorad Dodik, fordert die Abspaltung des serbischen Landesteils und bekommt dafür Unterstützung aus dem Nachbarstaat Serbien und auch von Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin gibt sich gerne als Beschützer des serbischen Volks, das mit Russland die christlich-orthodoxe Religion teilt.
Türkei, Saudi-Arabien: Die islamischen Staaten nehmen Einfluss auf die muslimische Bevölkerung, die etwa die Hälfte der gut drei Millionen Bosnierinnen und Bosnier ausmacht. Sie finanzieren Moscheen und Prediger befördern damit die Islamisierung des Landes. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterhält enge Beziehungen zu Bakir Izetbegović, dem einflussreichsten muslimischen Politiker in Bosnien.
China: Mit dem Megaprojekt «Neue Seidenstrasse» will China einen Verkehrs- und Industriekorridor über den Balkan nach Westeuropa schaffen und hat dafür auch Bosnien im Blick. An der Stelle der USA und der EU tritt immer häufiger China als Investor auf und gewinnt damit politischen Einfluss.
(Sebastian Ramspeck)
#SRFglobal, 01.09.2022, 22:25 Uhr
Mehr zum Thema
Video 'Droht Bosnien und Herzegowina wieder Krieg?' abspielen
Aus 'SRF News Videos' vom 29.08.2022, 08:00 Uhr (Link zur Sendung)
Droht Bosnien und Herzegowina wieder Krieg?
SRF News Videos(Link zur Sendung) vom 29.08.2022, 08:00 Uhr
Audio 'Valentin Inzko: Mit dem Krieg steht Bosnien-Herzegowina im Fokus' abspielen
Aus 'Tagesgespräch' vom 31.08.2022, 13:00 Uhr (Link zur Sendung)
Valentin Inzko: Mit dem Krieg steht Bosnien-Herzegowina im Fokus
Tagesgespräch(Link zur Sendung) vom 31.08.2022, 13:00 Uhr
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr
Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht.
Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger
Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?
Meistgelesene Artikel
Nach links scrollenNach rechts scrollen
Social Login
Für die Registrierung benötigen wir zusätzliche Angaben zu Ihrer Person.
Die maximale Anzahl an Codes für die angegebene Nummer ist erreicht. Es können keine weiteren Codes erstellt werden.
Mobilnummer ändern
An diese Nummer senden wir Ihnen einen Aktivierungscode.
Diese Mobilnummer wird bereits verwendet
E-Mail bestätigen
Wir haben Ihnen ein E-Mail an die Adresse {* emailAddressData *} gesendet. Prüfen Sie bitte Ihr E-Mail-Postfach und bestätigen Sie Ihren Account über den erhaltenen Aktivierungslink.
Keine Nachricht erhalten?
Wenn Sie nach 10 Minuten kein E-Mail erhalten haben, prüfen Sie bitte Ihren SPAM-Ordner und die Angabe Ihrer E-Mail-Adresse.
Wir haben Ihnen ein E-Mail an die Adresse {* emailAddressData *} gesendet. Prüfen Sie bitte Ihr E-Mail-Postfach und bestätigen Sie Ihren Account über den erhaltenen Aktivierungslink.
Keine Nachricht erhalten?
Wenn Sie nach 10 Minuten kein E-Mail erhalten haben, prüfen Sie bitte Ihren SPAM-Ordner und die Angabe Ihrer E-Mail-Adresse.
Sie können sich nun im Artikel mit Ihrem neuen Passwort anmelden.
Ein neues Passwort erstellen
Wir haben den Code zum Passwort neusetzen nicht erkannt. Bitte geben Sie Ihre E-Mail-Adresse erneut ein, damit wir Ihnen einen neuen Link zuschicken können.
Ihr Account wurde deaktiviert und kann nicht weiter verwendet werden.
Wenn Sie sich erneut für die Kommentarfunktion registrieren möchten, melden Sie sich bitte beim Kundendienst von SRF.