Was passiert derzeit im Norden Kosovos? Im Norden Kosovos nehmen die Spannungen zwischen den Behörden und der serbischen Minderheit erneut zu: Nach einem nächtlichen Schusswechsel mit der Polizei blockierten serbische Demonstranten im Norden des Kosovo am Sonntag einen zweiten Tag lang die Hauptverkehrsstrassen. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic sagte am Samstagabend, dass er die Nato-Sicherungstruppe Kfor bitten wolle, serbische Polizisten und Streitkräften in Kosovo zu stationieren. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell warnte beide Seiten vor einer Eskalation.
Wieso flammt der Konflikt jetzt wieder auf? Seit Jahren kommt es im Norden Kosovos, wo viele Serben leben, immer wieder zu Spannungen. Für Osteuropa-Korrespondent Peter Balzli ist der Zeitpunkt der aktuellen Spannungen eher zufällig. Zuletzt hatte ein Streit um Autonummern für Wirbel gesorgt: Serbische Nationalisten wollten keine kosovarischen Kennzeichen akzeptieren. Die Regierung Kosovos plante darauf Geldstrafen für illegale serbische Nummernschilder. Der Konflikt konnte beigelegt werden. Doch für Balzli ist klar: «Die Serben haben diese Gelegenheit dankend entgegengenommen, um die Sache zu eskalieren. Sie haben grosses Interesse, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kosovo zu Serbien gehört.»
1999 endete der Kosovo-Krieg. Wieso ist der Konflikt bis heute nicht beigelegt? Der Kosovo-Konflikt sei 1999 eigentlich nur eingefroren worden, sagt Osteuropa-Historikerin Marie-Janine Calic. Die Albaner hatten im Krieg für einen eigenständigen Staat gekämpft. Serbien wollte dies verhindern, weil Kosovo eine autonome Provinz innerhalb der serbischen Grenzen war. Die nach der Nato-Intervention verabschiedete Resolution der UNO bezeichnet Calic als widersprüchlich. Sie beinhalte nämlich einerseits, dass man eine Lösung finden müsse, um Kosovo Selbstregierung zu gewähren. Andererseits wollte man aber auch das völkerrechtliche Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen wahren, was im Interesse von Serbien lag.
Dies habe dazu geführt, dass sich beide Seiten seit über 20 Jahren auf diese widersprüchliche Resolution berufen und auf ihren Maximal-Positionen beharren, so die Historikerin. 2008 hat sich Kosovo schliesslich für unabhängig erklärt. Serbien akzeptiert das nicht. Aber auch Russland, China und die EU-Staaten Spanien, Griechenland, Rumänien, Slowakei und Zypern anerkennen die Unabhängigkeit Kosovos nicht.
Kommt es zu einem bewaffneten Konflikt? Die meisten Experten stufen dieses Risiko eher als gering ein. Keine der beiden Seiten habe bei näherer Betrachtung ein Interesse daran, einen grösseren Konflikt vom Zaun zu brechen, glaubt Historikerin Calic. Beide Länder hätten als Fernziel den EU-Beitritt. Ein bewaffneter Konflikt wäre diesem nicht zuträglich. Im Übrigen verfügten Serbien und Kosovo nicht über die militärischen Mittel dafür, so Calic. Auch Korrespondent Balzli sieht im serbischen Militärkonvoi vor allem ein Säbelrasseln. Der Grund: In Kosovo sind seit 1999 Nato-Truppen stationiert und die Amerikaner betreiben im Süden des Landes eine riesige Militärbasis. «Ich glaube kaum, dass es die Serben riskieren werden, mit denen in einen bewaffneten Konflikt zu treten», so Balzli.
Welche Rolle spielen der serbische Präsident Vucic und Kosovos Premierminister Kurti? Eine wichtige. Denn die beiden verbindet eine spezielle Geschichte. Korrespondent Balzli sieht darin auch ein Kern des wiederaufflammenden Konflikts. Albin Kurti sass jahrelang als Mitglied des kosovarischen Widerstandes im Gefängnis. Alexandar Vucic war während des Kosovo-Krieges Propagandaminister der Regierung Milosevic. «Die beiden sind sich spinnefeind», sagt Balzli. Die letzte Eskalation war am Tag des WM-Matches Schweiz–Serbien vor wenigen Tagen, als Vucic Kurti als Terroristen bezeichnete. «Das war natürlich auch gezielt, um die ganze Sache wieder eskalieren zu lassen», so Balzli.