Avdon im Norden Israels wäre eigentlich ein schönes Fleckchen Erde: Das Dorf lebt normalerweise von Tourismus und Landwirtschaft – derzeit ist Litschi-Saison. Doch dieser Tage ist die Anspannung mit Händen zu greifen. Die Grenze zum Libanon und damit auch die Schiitenmiliz Hisbollah ist hier nur 3.5 Kilometer entfernt.
Warnzeit: 0 Sekunden
Wie überall in Israel gibt es in Avdon ein Alarmsystem, das bei Raketen- und Drohnenangriffen per Sirene und App warnt. Nur: Wenn hier der Alarm ertönt, bleiben aufgrund der kurzen Distanz null Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Bürgermeisterin Olga Yifrah erklärt: «Wir können hier etwa von Panzerabwehrraketen getroffen werden. Bei einem Angriff flach auf den Boden legen, die Hände über den Kopf!»
Einen Tag nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und dem Beginn des Gazakrieges hat die vom Iran unterstützte Hisbollah angefangen, den Norden Israels anzugreifen – als selbsterklärte «Unterstützung» für die Hamas in Gaza. Israel schlägt zurück, bombardiert Stellungen und Kämpfer der Hisbollah im Libanon. Seit fast zehn Monaten geht das nun so hin und her.
«Es ist sehr frustrierend»
Die Folge auf israelischer Seite: Die Regierung hat Zehntausende Menschen im Norden Israels evakuiert – ganze Ortschaften verkommen zu Geisterstädten. Nicht so Avdon. Bürgermeisterin Olga Yifrah wäre froh, wenn auch die 850 Einwohner ihres Dorfes evakuiert würden. Doch bisher weigert sich die Regierung – ohne klare Begründung: «Es ist sehr frustrierend», sagt die Bürgermeisterin.«Ich habe diverse Stellen angeschrieben, aber niemand konnte mir sagen, weshalb wir nicht evakuiert worden sind.»
Niemand will seine Kinder an einem Ort aufziehen, wo jederzeit eine Rakete aufs Haus fallen könnte. Es ist wie russisches Roulette.
Der Alltag im Dorf ist daher von Angst und Stress geprägt. Die lokale Wirtschaft darbt: Wegen des Kriegs kommen keine Touristen mehr. Im Dorfladen gibt es kein frisches Gemüse, weil sich der Lieferant nicht mehr ins Dorf getraut.
«Wie russisches Roulette»
Die Bürgermeisterin kämpft derzeit vor Gericht für eine Evakuierung und mehr Unterstützung für die Dorfbevölkerung. Wie viele Menschen in Avdon hat auch Olga wirtschaftlich zu kämpfen: Sie, die eigentlich mit Brennholz handelt, findet für ihre Ware keine Abnehmer mehr.
Trotz der angespannten Lage hätten sie keine andere Wahl, als hierzubleiben, sagt die dreifache Mutter mit litauischen Wurzeln. «Doch niemand will seine Kinder an einem Ort aufziehen, wo jederzeit eine Rakete aufs Haus fallen könnte. Es ist wie russisches Roulette.»
Hoffen auf Diplomatie
In Israel glauben viele, dass ein grösserer Krieg mit der Hisbollah unvermeidlich ist. Olga hofft auf eine diplomatische Lösung: «Ich muss einfach daran glauben, dass das alles eines Tages vorbei ist und wir hier wieder an einem friedlichen Ort leben können – und nicht in einer Kriegszone.»
Dass dies derzeit nicht viel mehr als Wunschdenken ist, zeigt sich kurz darauf: Schon wenige Stunden nach Olgas Aussage schrillen in Avdon bereits wieder die Sirenen.