In einer Demokratie hat jede und jeder eine Stimme. Im Prinzip. Tatsächlich ertönten aber bisher die Stimmen der Gebildeten, der Mächtigen lauter als jene der Aussenseiter, der Globalisierungszweifler, der Migrationsgegner, der Klimaleugner.
Das änderte sich abrupt mit der Internet-Technologie und den sozialen Medien, sagt Jiri Schneider, Direktor der US-Denkfabrik Aspen Institute. «Die Technologie gibt denen eine Stimme, die vorher keine hatten.»
Auf einmal finden auch diese Kreise Gehör, können sich gegenseitig verstärken und Stimmungen anheizen. Rechts- und linkspopulistische oder separatistische Bewegungen profitierten davon, die moderaten Kräfte leiden.
Bei diesen Begebenheiten ist es einfach, Gefühle für Aufbruch, Ausstieg oder Separatismus zu befeuern.
Nach Mauerfall keine stabilen Verhältnisse
Das spüre man besonders in Zentral- und Osteuropa, wo selbst dreissig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer keine stabilen politischen Gesellschaften entstanden, sagt Schneider.
Gelungen ist das bloss ansatzweise. Noch immer sind die Parteien schwach, das Vertrauen in die etablierte Politik gering, der Bürgersinn wenig ausgeprägt. Das Problem ist im Osten akut.
Doch selbst alte und vermeintlich stabile westliche Demokratien stehen plötzlich unter Druck. Immer mehr Leute finden, die Globalisierung schade ihnen. Sie nehmen nicht einfach hin, dass internationale Vernetzung, kulturelle Angleichung und vor allem mehr und mehr Migration unvermeidlich seien.
Es sollte einen Dialog darüber geben, was das akzeptable Mass und was die Regeln für die Migration sind.
Demokratien zweifeln an sich selbst
Die Krise der liberalen Demokratie gründe aber auch darin, dass der freie Westen selber den Glauben an sie verloren habe. Zumal der atemberaubende Aufstieg Chinas die Gleichung Demokratie gleich Wohlstand ausser Kraft setze. Wohlstand machte für viele die Attraktivität der Demokratie aus. Es ging manchen nicht um Pressefreiheit oder Gewaltenteilung. Sie wollten Wohlstand. Möglichst immer mehr.
Bloss ginge es auf einmal nicht mehr so weiter, so Jiri Schneider. Weiteres Wachstum, weitere Einkommensvermehrung werde zur Illusion. Das schade der Demokratie, die vor allem auch ein Wohlstandsversprechen gewesen sei.
In den reichen Ländern haben wir ein gewisses Mass an Wohlstand erreicht, bei dem es für die Eltern schwierig ist, ihren Kindern zu sagen, dass sie es besser als sie haben werden.
Informationskrieg als billiger Weg
All das wiederum lädt Kräfte von aussen geradezu ein, den Westen anzugreifen, Spannungen anzuheizen, den Konsens weiter zu schwächen.
Im Unterschied zu einer militärischen Konfrontation seien Unterwanderung, Informationskrieg, psychologische Kriegsführung ein gefahrloser und billiger Weg, den Westen zu spalten. Russland tue das systematisch. China folge ihm in dieser Spur.
Das ist eine Einladung für Regimes wie das russische Regime, welches (...) zeigen will, (...) was die liberalen Demokratien nicht leisten, nur um deren Fehler und Defizite zu benutzen.
Gern wird die Schuld an der Krise des Westens nach Brüssel abgeschoben, zur EU, zur Nato.
Das ist das Schwarz-Peter-Spiel. Manchmal ist es halt einfacher, das Problem Brüssel anzulasten.
Seine Hausaufgaben machen müsste zunächst aber jedes einzelne EU- und Nato-Mitgliedsland selber.
Westen bald nicht mehr der Nabel der Welt
Überall brauche es, so Schneider, eine Verständigung über eine neue gemeinsame Grundlage, nichts weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag. Ein gewaltiges Projekt. Eines, das Zeit braucht. Und das weltpolitisch möglicherweise gar nicht mehr sonderlich relevant ist.
Europa sei bloss der westlichste Zipfel der eurasischen Landmasse – eine Region, die künftig weder bevölkerungsmässig, noch wirtschaftlich, noch politisch und moralisch eine besondere Bedeutung oder gar Vorbildfunktion habe. Zumal auch die USA schwächeln, die zweite Säule der freien Welt. Der Westen, so Jiri Schneider, ist je länger je weniger der Nabel der Welt.