Forderung nach mehr Lohn in Lausanne, Proteste gegen die Rentenreformpläne in Frankreich, wütende Lehrpersonen in Grossbritannien: In Europa wird gestreikt. Die Forderungen und Entwicklungen in den einzelnen Ländern sind unterschiedlich, die Gewerkschaften sind anders organisiert, die Regierungen anders aufgestellt. Was das Kampfmittel dennoch in allen Ländern gemeinsam hat, erklärt Historiker Adrian Zimmermann.
SRF News: Welcher ist der europaweit grosse gemeinsame Nenner von Streiks?
Adrian Zimmermann: Das hängt wahrscheinlich mit der Teuerung zusammen, die antreibt. Vor allem ohne automatischen Teuerungsausgleich, wie man den bis in die 1980er-Jahre, in der Schweiz bis in die 1990er-Jahre hatte.
Es ist eine hohe Teuerung da, aber die Löhne halten nicht von selbst mit. Und das muss zu Konflikten führen.
Die neoliberale Welle erfasste Kontinentaleuropa in den 1990er-Jahren, England schon früher. Damit wurden die Bestimmungen zum Teuerungsausgleich sehr häufig gestrichen. Jetzt hat man wieder die Situation annähernd wie im Ersten Weltkrieg: Es ist eine hohe Teuerung da, aber die Löhne halten nicht von selbst mit. Und das muss zu Konflikten führen.
Wir hören immer, dass die Gewerkschaften Mitglieder verlieren. Bedeutet das, die Gewerkschaften nehmen in diesem Konflikt eine schwächere Rolle ein als bisher?
Damit Streiks stattfinden können, müssen Gewerkschaften einerseits nicht zu schwach, aber auch nicht zu stark sein. Wenn sie zu stark sind, reicht die Drohung. Dann glaubt man ihnen, sie hätten so viele Mitglieder, seien gewerkschaftspolitisch so und so gut geschult. Und da kommt es vielleicht gar nicht zum Streik.
Gewerkschaften dürfen nicht zu schwach, aber auch nicht zu stark sein.
Eine sehr schwache Gewerkschaft wird auch nicht in der Lage sein, einen Streik durchzuführen. Der Grossteil der europäischen oder auch US-amerikanischen Gewerkschaften bewegt sich in den unterschiedlichen Abstufungen dazwischen. Deswegen sind sie dann auch effektiv gezwungen, wieder vermehrt zum Mittel des Streiks zu greifen.
Bringt Streiken überhaupt etwas? Verändert man damit heute noch Realpolitik?
Es gibt Phasen, wo man ganz klar nachweisen kann, dass Streiks massiv etwas bewirkt haben. Wenn Sie etwas mehr als 100 Jahre zurückgehen: Der Achtstundentag, eine alte Forderung der Arbeiterschaft, wurde schliesslich eingeführt. Das ist nur mit den massiven Streiks, zum Teil auch Revolutionswellen, in verschiedenen europäischen Ländern in dieser Zeit zu erklären.
Es gibt Phasen, wo Streiks sehr wichtig sind. Daneben finden Sie in der ganzen Geschichte des Streiks auch sehr viele Niederlagen.
Es gibt Phasen, wo Streiks sehr wichtig sind. Daneben finden Sie in der ganzen Geschichte des Streiks auch sehr viele Niederlagen. Das ist eine Kontinuität in der erst rund 200-jährigen Geschichte der häufigen Anwendung dieses Kampfmittels.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.
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