9M729. So heisst die neue russische Rakete, die für das Ende des INF-Vertrages verantwortlich sein soll. Sie fliege weiter als 500 Kilometer, was der Abrüstungsvereinbarung über atomare Mittelstreckenraketen widerspreche. So die amerikanische Darstellung.
Die russische Darstellung ist exakt das Gegenteil: Vize-Aussenminister Sergej Rjabkow hat an einer Medienkonferenz in Moskau nicht nur bestritten, dass die 9M729 weiter fliegt als erlaubt. Er sagte auch, Amerikaner würden selber den INF seit vielen Jahren verletzen: «Die Amerikaner installieren in Europa Raketen-Abschussvorrichtungen. Angeblich sind diese nur Teil eines Raketenschutzschirms.»
Wessen Raketen sind das wahre Problem?
In Tat und Wahrheit könnten sie aber verwendet werden, um Angriffswaffen abzuschiessen, so der Vize-Aussenminister: «Das ist eine direkte Verletzung des INF-Vertrages.» Rjabkow zählte zudem weitere angebliche amerikanische Vertragsverletzungen auf. So hätten die USA Drohnen entwickelt, welche die gleichen Eigenschaften hätten wie verbotene Mittelstreckenraketen.
Die Botschaft: Nicht die russischen Raketen sind das Problem, sondern die amerikanischen. Im Einzelnen ist es schwierig abzuschätzen, wer recht hat und wer lügt. Militärtechnik ist kompliziert und untersteht hüben wie drüben höchster Geheimhaltung.
Der Karrierediplomat Rjabkow, der schon seit Sowjetzeiten im Aussenministerium dient, sieht ohnehin vor allem ein politisches Problem: «Russland hat viele Jahre immer wieder umfangreiche Abrüstungsverhandlungen vorgeschlagen. Aber die Amerikaner blockieren unsere Initiative und demontieren Stück für Stück die internationale Sicherheitsarchitektur.»
Vergiftetes Klima zwischen den Atommächten
Was Rjabkow meint: Das Scheitern des INF-Vertrags hat eine Vorgeschichte und die beginnt 2001. Damals kündigte Washington einseitig den sogenannten ABM-Vertrag. Dieser hatte den Bau von Raketenabwehrsystemen weitgehend verboten.
Die Amerikaner und andere Nato-Vertreter reden herablassend mit uns Russen. In letzter Zeit ist so ein Tonfall üblich geworden.
Für die Strategen in Moskaus Generalstab war dieser Schritt ein Alarmsignal. Denn wenn eine Supermacht in der Lage ist, feindliche Atomraketen abzuschiessen, dann verliert die andere Supermacht ihr atomares Abschreckungspotenzial.
Vereinfacht gesagt: Mit einem funktionierenden amerikanischen Raketenschirm wären die russischen Atombomben nichts mehr wert. Dieses drohende Ungleichgewicht vergiftet die russisch-amerikanischen Beziehungen seit Jahren.
Beiderseitiges Misstrauen
Dazu kommt Psychologisches, Gefühltes. Russland als Verlierer des Kalten Krieges fühlt sich von den westlichen Siegern schlecht behandelt. Vize-Aussenminister Rjabkow sagt es so: «Die Amerikaner und andere Nato-Vertreter reden herablassend mit uns Russen. In letzter Zeit ist so ein Tonfall üblich geworden.»
Russland, sagte der Diplomat weiter, sei durchaus bereit zu neuen Abrüstungsverhandlungen. Aber nur auf Augenhöhe und unter Berücksichtigung der Interessen beider Seiten.
Das russische Misstrauen gegenüber den USA ist also gross. Allerdings beruht Misstrauen auf Gegenseitigkeit. Auch der Westen bezweifelt die Redlichkeit des Kreml. Anders gesagt: Die beiden grössten Atommächte misstrauen einander. Das ist schlecht für die Sicherheit auf der Welt.