Angespannte Lage in Israel: Zehntausende Menschen strömten in der Nacht auf die Strasse, um gegen die von Premier Benjamin Netanjahu angeordnete Entlassung des Verteidigungsministers und die Reformpläne seiner rechts-religiösen Regierung zu protestieren. Am Montag setzte sich der Protest fort. Präsident Izchak Herzog rief die Regierung zum Einlenken auf. «Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen», sagte er.
Dringlichkeitssitzung von Netanjahu: Mit Koalitionspolitikern soll der Regierungschef über eine mögliche Aussetzung des Reformvorhabens beraten haben. Demnach plante Netanjahu noch am Montag eine Rede an die Nation. Die Ansprache verzögerte sich am Vormittag. Mehrere Minister erklärten, zurücktreten zu wollen, sollte Netanjahu einen Stopp der Reform ankündigen.
Droht nun der Bruch von Israels Regierungskoalition? SRF-Auslandredaktorin Susanne Brunner geht davon aus: «Netanjahu ist in der Zwickmühle. Drosselt er bei der Justizreform das Tempo oder schwächt sie ab, läuft er Gefahr, dass er einige seiner radikalsten Verbündeten verliert und damit seine Mehrheit.»
Generalstreik angekündigt
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Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel hat vor dem Hintergrund der massiven Proteste gegen die umstrittene Justizreform zu einem Generalstreik aufgerufen. Betroffen ist auch der internationale Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv.
«Ich habe den sofortigen Startstopp am Flughafen angeordnet», sagte der Leiter der Arbeitergewerkschaft am Flughafen Ben Gurion, Pinchas Idan. Es wird erwartet, dass Zehntausende von den Flugänderungen betroffen sein werden.
Der Dachverband namens Histadrut rief zu dem «historischen» Arbeitsstreik auf, um «den Wahnsinn» der umstrittenen Justizreform der Regierung zu stoppen. Der Streik werde beginnen, sollte Netanjahu keinen Stopp der Reformpläne ankündigen.
Eklat um Verteidigungsminister: Gegen die Reform, mit der der Einfluss des Höchsten Gerichts beschnitten und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt werden soll, gibt es seit Monaten heftige Proteste. Der bisherige Verteidigungsminister Joav Galant hatte am Samstagabend die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit und insbesondere die Einsatzfähigkeit der Armee auf dem Spiel stehe. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede. Aus Protest gegen die Reform waren zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst erschienen.
Auf Twitter rief Netanjahu zur Einheit und gegen Gewalt auf. «Ich rufe alle Demonstranten in Jerusalem, von rechts und von links, dazu auf, verantwortlich zu handeln und keine Gewalt anzuwenden. Wir sind Brüder», schrieb Netanjahu am Montag.
Wütender Protest: In Tel Aviv blockierten Demonstranten am Sonntagabend mit Israel-Fahnen die zentrale Strasse nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Strassensperre neben Netanjahus Wohnhaus.
Auf der Befürworterseite steht unter anderem Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich. Er hat am Montag zu Gegenprotesten aufgerufen. «Kommt nach Jerusalem. (...) Wir sind die Mehrheit, lasst uns unsere Stimme erheben. Wir lassen uns unsere Stimme und den Staat nicht stehlen», sagt er in einem auf Twitter verbreiteten Video. Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hat auf Twitter ebenfalls dazu aufgerufen, für die Justizreform auf die Strasse zu gehen und den Aufruf mit dem Zusatz «damit sie uns die Wahlen nicht stehlen» versehen.
Das will die Justizreform
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Die Regierung wirft dem Höchsten Gericht unbotmässige Einmischung in politische Entscheidungen vor. Künftig soll das Parlament mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können. Der Ministerpräsident soll stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr, manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur. Auf den Strassen bricht sich der Zorn vieler Menschen Bahn, die um die Demokratie in Israel fürchten.
Ungeachtet der Proteste hatte am Montagmorgen ein Kernelement der umstrittenen Reform eine weitere Hürde genommen. Der Justizausschuss des Parlaments billigte den Gesetzestext, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses ändern soll. Der Entwurf wurde zugleich zur finalen Lesung ans Plenum überwiesen. Die Gesetzesänderung würde der Regierung eine Mehrheit in dem Gremium und damit einen erheblichen Einfluss auf die Ernennung von Richtern verschaffen.
«Rote Linie» für Opposition überschritten: Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise. Die Oppositionspolitiker Jair Lapid und Benny Gantz forderten Netanjahus Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, «sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen». Der Regierungschef habe «eine rote Linie überschritten».
Weltweite Kritik: Die US-Regierung als wichtigster Verbündeter Israels äusserte sich tief besorgt. Angesichts der geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» rief das Weisse Haus die israelische Führung nachdrücklich auf, sobald wie möglich einen Kompromiss zu finden. Sicherheitsexperten warnen, Feinde Israels – allen voran Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen – könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf das durch die Krise geschwächte Land nutzen.
Und Netanjahus Zukunft?
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Auf die Frage, ob Netanjahu ein Scheitern oder schon nur eine Abschwächung der Reform überhaupt noch politisch überleben kann, sagt SRF-Redaktorin Susanne Brunner: «Ich denke, Netanjahu wird politisch nicht mehr lange überleben. Das hat diese Nacht gezeigt. Mit der Entlassung seines Verteidigungsministers hat er den Bogen überspannt: Als einer seiner rechtsextremen Minister zur ‹Auslöschung› eines palästinensischen Städtchens aufrief und damit die Sicherheit in Israel und den Palästinensergebieten aufs Spiel setzte, entliess Netanjahu ihn nicht. Als sein Verteidigungsminister aber Kritik an der Justizreform wagte, musste dieser gehen.
Es ist offensichtlich, dass Netanjahu vor lauter Justizreform sein Land nicht mehr sieht. Israel braucht durchaus eine Justizreform – aber in dieser radikalen Form ist sie in einer Demokratie nicht durchzusetzen. Und wenn Netanjahu sie trotz Protesten durchsetzt, wird es zu einem Kampf zwischen der Politik und dem Höchsten Gericht kommen. Dann wird es erst recht gefährlich: Ein Teil der Bevölkerung und auch der Armee würde dem Höchsten Gericht folgen, ein anderer der Regierung.»
Susanne Brunner
Leiterin Auslandredaktion
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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandsredaktion von Radio SRF.
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