Vor zwei Wochen wurden die Südosttürkei und der Norden Syriens von heftigen Erdbeben heimgesucht. Die (bisherige) Schreckensbilanz: 47'000 Tote, davon mehr als 41'000 in der Türkei.
Dort machen sich auch immer mehr westliche Spitzenpolitikerinnen und -politiker ein Bild über die Lage. Auf Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg folgte US-Aussenminister Antony Blinken. Nun reisen die deutschen Ministerinnen Annalena Baerbock und Nancy Faeser an.
Sie alle bekunden ihre Solidarität mit der Türkei und versprechen weitere Hilfen für die Erdbebenopfer. Bei den Besuchen entfaltet sich allerdings auch eine rege «Erdbeben-Diplomatie».
Poker um Nato-Norderweiterung
Denn zwischen dem Nato-Land Türkei und seinen westlichen Partnern liegt derzeit einiges im Argen – allem voran die geplante Norderweiterung des Militärbündnisses erhitzt die Gemüter.
Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul, fasst die Botschaft der illustren Gäste aus dem Westen zusammen: «Man sichert der Türkei Hilfe zu. Subtil und diskret geht es aber auch darum, im Nato-Streit Druck auf die Türkei zu machen.»
Heisst: Das westliche Militärbündnis steht zusammen, wenn eines seiner Mitglieder bedroht ist – sei es durch Krisen, Kriege oder Katastrophen. Eine Partnerschaft ist aber keine Einbahnstrasse.
Bei seinem Besuch in der Erdbeben-Region betonte Nato-Generalsekretär Stoltenberg explizit die Hilfe von Schweden und Finnland. «Durch die Blume sagt er der Türkei damit: Hier helfen euch Länder, die ihr im Moment blockiert», übersetzt Seibert die Erdbeben-Diplomatie.
Auch erwähnte Stoltenberg die EU-Geberkonferenz im März, die von der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft vorbereitet wird. «Das sind Signale, die bei der Türkei eine Lockerung der starren Haltung im Nato-Streit bewirken sollen.»
«Versöhnlichere Töne» aus Ankara
Die mehr oder weniger subtilen Botschaften finden offenbar Gehör. Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu sagte beim Besuch seines amerikanischen Amtskollegen Blinken, dass Hilfe in der Not immer Auswirkungen habe.
Cavusoglu erkannte auch an, dass Schweden gewisse Schritte unternommen habe, um der Türkei entgegenzukommen – auch wenn diese noch nicht ausreichten.
«Von der türkischen Regierung gibt es nun versöhnlichere Töne, das hört sich alles weniger schroff an als noch vor dem Erdbeben», sagt Seibert. Für denkbar hält der Journalist, dass Ankara seine Forderungen an Schweden für eine Zustimmung zum Nato-Beitritt etwas zurückschrauben könnte.
Nato-Streit rückt in den Hintergrund
Zwischenzeitlich forderte die Türkei, dass Schweden mehr als 100 «anti-türkische Aktivisten und Terroristen» ausliefern soll. Davon ist inzwischen keine Rede mehr. Der türkische Aussenminister Cavusoglu sprach am Montag davon, dass Schweden die kurdische Terrororganisation PKK daran hindern müsse, in Schweden Geld zu sammeln.
Spätestens bis Juni finden in der Türkei Wahlen dar. Der Nato-Streit bietet Erdogan auch Gelegenheit, sich vor der eigenen Wählerschaft als starker Mann zu präsentieren, der sich westlichen Druckversuchen entgegenstellt. Die verheerenden Beben dürften dieses Wahlkampfthema nun aber in den Hintergrund rücken. Das könnte eine gütliche Lösung im Nato-Streit zusätzlich erleichtern.