Der syrische Machthaber Baschar al Assad ist gestürzt: Was heisst das für Syrien, das politisches System und die Bevölkerung? Islamexperte Reinhard Schulze ordnet ein.
SRF News: Vom Beginn der Rebellen-Offensive bis zum Ende des Assad-Regimes ging es gut eine Woche: Wie konnte es so schnell gehen?
Reinhard Schulze: Es gibt viele Antworten darauf. Der Prozess begann vor elf Tagen, als die Konföderation der Rebellen von Idlib entschied, den schon lang geplanten Offensivschritt zu wagen. Man hat ihn bereits für den August geplant, doch die Türkei hatte noch etwas Zurückhaltung erbeten. Doch kürzlich wagten die Rebellen diesen Schritt.
Die Eroberung der Stadt Homs innerhalb von drei Stunden ist ein markanter Hinweis darauf, dass die syrische Armee kollabierte.
Es könnte damit zusammenhängen, dass einige Truppen, auch von der Hisbollah, aus Aleppo abzogen und dass auch die Befehlsstruktur der syrischen Armee nicht mehr gut funktionierte. Die Eroberung der Stadt Homs innerhalb von drei Stunden ist ein markanter Hinweis darauf, dass die syrische Armee kollabierte. Seit Jahren haben sich in der syrischen Armee einzelne kleine Fürstentümer von Kommandanten gebildet. Es war nicht damit zu rechnen, dass die syrische Armee einem koordinierten und wohlgeplanten Angriff militärisch wirklich begegnen könnte.
Sie waren also nicht überrascht, dass die syrische Armee so schnell geschlagen wurde?
Nein. Für jeden, der das beobachtet hatte, war das eigentlich klar. Eine Sache ist doch sehr auffällig: Die syrische Armee war sehr schlecht vorbereitet auf eine solche Situation. Und auch die russische Aufklärung war nicht mehr in der Lage zu sehen, was sich am Boden tatsächlich vollzieht. Dies war sicherlich einer der Gründe, warum eine solche Angriffswelle möglich war.
… und der offenbar schwache Rückhalt für Assads Regime.
Eigentlich hatte das Regime ja nie wirklich einen breiten sozialen Rückhalt, sondern beruhte eher auf einer Art Mitläufertum in der Gesellschaft. Das machte sich bei der Offensive bemerkbar. Mancherorts kamen drei, vier Kämpfer an, die die Leute vor Ort überzeugen konnten, in die Kämpfe einzugreifen. Dieser Mobilisierungseffekt war der tragende Pfeiler der ganzen Offensive. Ich vermute, al-Golani hat damit gerechnet.
Was für ein Staat wird Syrien künftig sein?
Die eine Idee, die al-Golani jüngst angesprochen hatte, war, dass Syrien ein Staat der Institutionen werden soll, die die verschiedenen Kommunen in Syrien repräsentieren. Eine weitere, eher unwahrscheinliche Möglichkeit ist ein zentralistischer, ideologisch geführter, durch eine Person repräsentierter Staat. Aber eine solche Person gibt es nicht, al-Golani würde diese Funktion nie erfüllen können. Es gibt diese einheitliche Ideologie nicht und diese Zentralität wie unter Assad nicht mehr. Und, was in Syrien immer passieren kann, ist ein Putschversuch. Auch das ist derzeit aber unwahrscheinlich, weil alle bisherigen Putsche auf Grundlage der Armee erfolgten, die im Moment nicht mehr existiert.
Entscheidend ist, dass das, wofür die Menschen stehen, politisch respektiert wird.
Also es wird keine Demokratie sein, wie wir sie in Europa kennen?
Mancherorts ist von Wahlen und ähnlichem die Rede. Das sollte man jetzt nicht so in den Mittelpunkt rücken, weil das in Syrien im Augenblick nicht der entscheidende Punkt ist. Entscheidend ist, dass das, wofür die Menschen stehen, politisch respektiert wird. Das bedeutet, dass ihre kommunale Organisation, ihre Gemeinde, der Kern dieser syrischen, multireligiösen Gesellschaft, durch den Staat geschützt wird.
Wie wird es Syrien gelingen, dass Muslime, Drusen, Christen, Alewiten und mehr weiterhin friedlich zusammenleben?
Wenn der neue Staat ein grosses Interesse an der so genannten Übergangsgerechtigkeit entwickelt, also der Aufarbeitung der Vergangenheit, die für die ganze Bevölkerung und ihr Leid gleichermassen erfolgt. Das bedeutet, dass die Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden und dass eine Art Gemeinsinn in der Gesellschaft entsteht. Das ist für Syrien ungeheuer wichtig. Und da hoffe ich auch darauf, dass viele, die nach Europa geflüchtet waren, jetzt vielleicht zurückkehren oder Kommunikation mit ihren Leuten in Syrien aufnehmen und diese Idee mitbringen.
Das Gespräch führte Nico Schwab.