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HTS-Rebellen in Syrien «Wird Homs eingenommen, ist der Kipppunkt für Assad erreicht»

Syrien erlebt eine überraschende Wende: Rebellen unter der Führung der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) haben Mitte vergangener Woche im Nordwesten Syriens eine Offensive gegen die syrische Armee gestartet. Letztes Wochenende haben sie Aleppo erobert, die zweitgrösste Stadt Syriens. Gestern Donnerstag haben die Rebellen die Stadt Hama eingenommen . Nun rücken die islamistischen Rebellen weiter Richtung Homs vor. Die Armee von Machthaber Assad zieht sich immer weiter zurück. Islamexperte Reinhard Schulze analysiert Ursachen und mögliche Perspektiven.

Reinhard Schulze

Islamwissenschaftler

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Reinhard Schulze studierte von 1974 bis 1981 Orientalistik und Islamwissenschaft, Romanistik und Linguistik an der Universität Bonn. Von 1987 bis 1992 wirkte er als Professor für Orientalische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum, zwischen 1992 und 1995 als Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Bamberg. Ab 1995 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Schulz’ wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Erforschung des sozialen Wandels im Kontext der islamischen Welt.

SRF News: Warum stehen die Regierungstruppen von Assad dem Angriff offenbar machtlos gegenüber?

Reinhard Schulze: Die regimetreuen Streitkräfte verfügen nicht mehr über genügend Zusammenhalt und eine einheitliche Kommandostruktur. Das Militär ist in lokalen Milizen organisiert. Durch diese Ausrichtung auf verschiedene Machtträger ist unklar, wer wen kontrolliert und wer politisch den Ton angibt.

Sollte Homs in die Hände der Rebellen fallen, wird es für Assad sehr schwierig, in Damaskus politisch zu überleben.

Es gibt Zerfallserscheinungen. Früher boten sich Möglichkeiten, als die lokalen Machthaber über das ganze Land verteilt unter dem Schirm von Baschar al-Assad existierten. Doch diese Strukturen brechen auseinander. Es wird für das Assad-Regime immer schwieriger, diesen Zusammenhalt wiederherzustellen.

Die Rebellen scheinen ein klares Ziel zu haben: den Sturz von Präsident Assad. Wer unterstützt die Kämpfer ausserhalb von Syrien?

Direkte Unterstützung von aussen lässt sich im Augenblick noch nicht nachweisen. Es gibt Hinweise auf türkische Unterstützung bei bestimmten Fraktionen der Haiat Tahrir al-Scham (HTS).

Baschar al-Assad wurde vor eineinhalb Jahren politisch rehabilitiert. Gilt das auch jetzt noch, trotz der Offensive?

Die arabische Welt hatte auf Assad gesetzt, um das syrische Regime aus dem Einfluss des Irans herauszulösen und wieder in die «arabische Familie» zurückzuführen. Das hat wegen russischer und iranischer strategischer Interessen nicht funktioniert. Das Assad-Regime hat sich in den letzten Tagen sehr deutlich zum Iran bekannt. Die arabischen Staaten sind jetzt etwas ratlos, was die aktuellen Prozesse in Syrien betrifft.

Steht Assad alleine da?

Die russische Unterstützung für Assad könnte schwinden, da Syrien für Russland weniger wichtig wird. Vielleicht setzt Russland auf einen Putsch in Syrien, um ein neues Regime der alten Ordnung zu schaffen. Der Iran könnte auf die gleiche Art und Weise handeln.

Zwei Männer im Anzug schütteln sich die Hände in einem eleganten Raum mit grünen Wänden.
Legende: Die beiden grossen Partner von Präsident Assad – Russland und der Iran – sind im Moment in anderen Konflikten gebunden. Reuters/Sputnik/Vladimir Gerdo (15.03.2023)

Was passiert, wenn Homs eingenommen wird?

Dann dürfte der Kipppunkt für das Regime erreicht sein. Homs ist strategisch entscheidend. Dort verlaufen Verbindungswege in das Machtgebiet der Assad-Familie, in das Alewiten-Gebiet. Sollte die Stadt in die Hände der Rebellen fallen, wird es für Assad sehr schwierig, politisch in Damaskus zu überleben. Es könnte sein, dass das Machtzentrum dann in den Westen Syriens verlagert wird. Dort könnte Assad versuchen, eine Neuorganisation seiner Macht zu versuchen.

Rebellenkämpfer halten Waffen vor einem Gebäude in Hama in die Luft.
Legende: Die Aufständischen haben seit Beginn der Offensiven das Gebiet, das sie kontrollieren, mehr als verdoppelt. Reuters/Mahmoud Hassano (05.12.2024)

Noch herrscht also viel Unsicherheit im System.

Jubelfeiern in Hama oder in Aleppo weisen darauf hin, dass die Bevölkerung auf einen Systembruch hofft – einen Umbruch, der nicht notwendig in ein islamistisches Regime münden muss, sondern der Bevölkerung erstmals das Gefühl von Souveränität vermittelt. Der Militärkommandant der HTS hat einen Bischof als Gouverneur von Aleppo eingesetzt. Das neue Regime versucht, in Nordsyrien politische Sympathien zu gewinnen. Das dürfte für die Bevölkerung so etwas wie ein Hoffnungsschimmer sein.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Rendez-vous, 06.12.2024, 12:30 Uhr ; 

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