Die vier Uhren hinter der Reception im Hotel «Belarus» in Druskininkai zeigen die Zeit der wichtigsten Hauptstädte der Region: Vilnius, Warschau, Minsk … Unter der vierten Uhr fehlt der Schriftzug. «Welcher Name stand hier?», frage ich naiv. Die dicke Frau hinter dem Tresen klappt die Augenlieder herunter und antwortet: «London.»
Wir beide wissen, dass es «Moskau» war. Zeitenwende. Druskininkai, einst Kurort für russische Beamte des Zarenreichs, liegt am östlichen Ende der sogenannten Suwalki-Lücke, direkt an der Grenze zu Belarus: Holzhäuschen und sozialistischer Brutalismus. Ein kleiner See mit überdimensionierten Plastikschwänen und eine Indoor-Skianlage. Die Zahl der Touristen, vor allem Russen, sei seit dem Ukrainekrieg um die Hälfte gesunken, sagt der Bootsvermieter, der die Plastikschwan-Boote ausleiht: «Wirtschaftlich ist das schlecht, aber politisch gut.» Ich hätte eigentlich erwartet, dass der Mann sich beklagt.
Die Grenze zu Belarus ist hermetisch abgeriegelt. Gitter, Stoppschilder, Schranken, Kameras, und ein rotes, grosses Plakat des litauischen Aussenministeriums: «Riskieren Sie nicht Ihre Gesundheit. Reisen Sie nicht nach Belarus. Es könnte sein, dass Sie nicht mehr zurückkehren können.»
Ein Drittel Litauens ist Wald. Auch diese grüne Grenze ist nun mit Stacheldraht, Kameras und einem Sandstreifen gesichert «Nicht reintreten!» ruft die Grenzpolizistin Kristina. Minen? Das dann doch nicht: Der Sandstreifen soll Hinweise auf illegale Migration geben. Doch kürzlich meldete das Verteidigungsministerium, dass Litauen seinen Bestand an Minen aufstocken, ja sogar selbst Minen produzieren und die Grenzanlagen verstärken will.
Seit der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Flüchtlinge aus aller Welt visafrei an die polnische und litauische Grenze transportierte, ist die Grenze geschlossen. Litauen ist höchst alarmiert: 70 Prozent der Bevölkerung sehen Russland als Bedrohung. 90 Prozent befürworten Nato-Truppen im Land.
«P e t e r! Stopp!» Was jetzt? Es geht doch abwärts. Fahrtwind und Tempo sind angesagt, Schwung holen für die nächste Anhöhe. «Du bist über die Grenze gefahren», ruft Gil, mein litauischer Kollege. Welche Grenze?
Er meint die einstige Grenze zwischen der Sowjetunion, zu der auch Litauen zählte, und der früheren Volksrepublik Polen. Beides waren zwar sozialistische Brüderländer, doch die Grenze war unpassierbar.
«Das war der eigentliche Eiserne Vorhang», sagt Jonas Malinauskas, pensionierter Lehrer und passionierter Historiker in Lazdijai: «Es gab hier Stacheldraht, Sensoren, Wachttürme, Sandstreifen zur Spurensicherung und alle 200 Meter war ein Anschluss für ein mobiles Feldtelefon an einem Baum. Eine zehn Kilometer breite Sperrzone durfte man nur mit einer Sonderbewilligung betreten und im Abstand von einem Kilometer zur Grenze wurden alle Bewohner umgesiedelt.
Ich schaue mich um. Zwischen den Bäumen entdecke ich einen alten Wachtturm, hinter Büschen verstecken sich verfallene Unterkünfte von Soldaten, die als Partylocation dienen. Und ein Ferienhausbesitzer nutzt die einstige Grenzbefestigung mit Original-Stacheldraht als Gartenzaun.
«Ende der 1940er-Jahre wurde hier sogar noch scharf geschossen», weiss Jonas Malinauskas. Denn die berühmte «Stunde Null» 1945 war eine deutsche Erfindung, um Deutschland einen Neuanfang zu ermöglichen. Aber in Osteuropa ging ein blutiger Krieg ungebremst weiter. Bis Ende der 1940er-Jahre schlachteten sich Polen und Ukrainer gegenseitig ab. Frauen wurden die Brüste abgeschnitten, Augen ausgekratzt, Menschen bei lebendigem Leib verbrannt und eine millionenfache ethnische Säuberung durchgesetzt. In Litauen führten Partisanen, die sogenannten Waldbrüder, bis weit in die 1950er Jahre einen Guerillakrieg gegen die Sowjetunion. Einer der letzten Partisanen mit dem Kampfnamen Vanagas wurde erst 1956 gestellt und 1957 hingerichtet.
Teile dieser Partisanen hatten zuvor auch Hitlers Armeen unterstützt, als diese 1941 im Baltikum einmarschiert waren. Binnen sechs Monaten ermordeten litauische Helfer 100'000 Juden. Jonas Malinauskas fährt uns auf ein unmarkiertes Feld ausserhalb der Kleinstadt Lazdijai: Im November 1941 wurden hier 1535 Juden erschossen, etwa ein Zehntel der lokalen Bevölkerung. «Mein Vater musste sie hier 1941 vergraben und 1960 wieder ausgraben», sagt er.
Einen Steinwurf entfernt liegt ein Friedhof, in dem die Leichen schliesslich beigesetzt wurden. Männer, Frauen und Kinder seien hier von den Knechten der Nazis erschossen worden, heisst es auf dem Gedenkstein. Gemeint sind Litauer, die den Mord auf Befehl der Deutschen begangen hatten.
Die Erde habe sich noch bewegt, als die Opfer im Massengrab verscharrt worden waren, habe ihm sein Vater erzählt. Und weil das Gelände sumpfig war, seien fast alle Leichen auch knapp 20 Jahre später noch identifizierbar gewesen.
Das Bild von der Erde und der Geschichte, die sich noch bewegt, ist bezeichnend für diese Region. Sie lauert hinter jedem Gebüsch, ist nur notdürftig mit Erde zugeschüttet. Wenn man sie mit der falschen Nahrung füttert, wird sie zum Monster. Niemand weiss dies besser als Wladimir Putin, der seinen Anspruch auf die Ukraine und das Baltikum mit einer falschen Geschichte legitimiert.
«Das Konzept von Putin ist, die Geschichte anderer Länder zu stehlen», sagt der Journalist Alexandras Matonis aus Vilnius. Die Krim sei ein Geschenk von Chruschtschow an die Ukraine gewesen, die Hafenstadt Klaipeda eines von Stalin an Litauen, hatte Putin beispielsweise behauptet und nach russischer Lesart ist das Baltikum seit dem 13. Jahrhundert von Russen besiedelt, obwohl das nicht belegt ist. In der Suwalki-Lücke lebten Litauer, Polen, Deutsche, Russen, Juden. Es braucht wenig, um die Geschichte dieser Region wie eine Handgranate zu entsichern.
Jenseits der Grenze im polnischen Punsk ist der Teufel los: Sirenen, Feuerwehr und Polizei als ob ein Krieg ausgebrochen wäre. Obwohl hier nur rund 1500 Menschen wohnen.
Es ist aber nicht Krieg, sondern ein Unfall, als wir die kleine Stadt mit unseren Velos erreichen. Bürgermeister Vytautas Liskauskas lässt sich vom Lärm nicht beirren und sprudelt los: Mit Erdwärme sollten alle öffentlichen Gebäude beheizt werden, erzählt er. Pläne für Windräder und Sonnenergie sind selbstverständlich. Dank der EU. Denn Brüssel fördert besonders stark strukturschwache Grenzgebiete. Zwei Millionen Euro Fördergelder habe er zusammen mit einer litauischen Gemeinde jenseits der Grenze in Brüssel beantragt, erzählt Liskauskas. Die polnisch-litauische Grenzregion mit drei Millionen Einwohner habe insgesamt sogar Projekte für 100 Millionen Euro eingereicht.
«Ich bete jeden Tag, dass die EU nicht untergeht», lacht Vytautas Liskauskas und meint es ernst. Die EU ist tatsächlich ein Segen für diese Region. Wir sind hier gefühlt «in the middle of nowhere», aber neben der Schule befindet sich eine Ladestation für E-Autos. «Meine Töchter beherrschen fünf Sprachen», sagt Liskauskas stolz, «Litauisch, Russisch, Polnisch, Englisch und Spanisch. Und meine vierjährige Enkelin spricht bereits zwei Sprachen und lernt jetzt Englisch.»
Das Dorf hat eine litauische Schule, die einzige in ganz Polen und ein litauisches Kulturzentrum. Drei Viertel der Bewohner von Punsk sind Litauer, auch Vytautas Liskauskas. Für sie ist der Schulunterricht in Litauisch. Die Messe wird einmal in Polnisch, einmal in Litauisch gelesen.
Das ist wichtig. Als das Magazin «Politico» 2022 die Suwalki-Lücke den gefährlichsten Ort der Welt bezeichnete, äusserte es auch die Sorge, dass Russland im Vorfeld eines möglichen Angriffs auf die Suwalki-Lücke Spannungen zwischen Polen und der litauischen Minderheit schüren könnte, wie im Donbass. Das Gleichgewicht der Ethnien und Kulturen funktioniert, auch dank der EU-Förderung, aber es ist fragil.
Robert Slovikas ist Präsident der ältesten litauischen Vereinigung in Polen und beklagt, dass in der Region litauische Schulen geschlossen worden seien. Wenn man sich bewusst wird, dass die Litauerinnen und Litauer eine Minderheit von 9000 Menschen in Polen mit einer Bevölkerung von 38 Millionen sind, wird diese Angst verständlich.
Staub und Lärm verdunkeln das nächste Ziel, links und rechts werden Bäume gerodet, die Autobahn wird ausgebaut. Eine endlose Karawane von Lkw zieht in beide Richtungen. Die A5 ist eine wirtschaftliche Lebensader der Region, obwohl inzwischen fast alle Grenzübergänge zu Kaliningrad und Belarus geschlossen sind. Die Trucker treffen sich am Rastplatz in Salaperaugis, einem kleinen Kaff im Grenzgebiet: Es sind Russen, Ukrainer, Litauer, Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Moldawier, das ganze frühere Sowjetimperium. Die gemeinsame Sprache ist Russisch.
Merkwürdige Dinge werden transportiert: Pawel fährt Würste aus Kaliningrad nach Moskau. Sascha aus Belarus bringt Briefe und Pakete von Minsk nach Berlin. Der Ukrainer Vitali transportiert Gas aus Kiew nach Vilnius. Russisches Gas? Gut möglich, denn Gas wird nicht sanktioniert und die Verträge der Ukraine mit Gazprom laufen noch dieses Jahr. Ein Kasache transportiert Möbel nach Zentralasien. Viktor aus Moldawien bringt Oliven und Essig aus Griechenland nach St. Petersburg. «Die haben alles, was sie brauchen», sagt er.
Die Sanktionen gegen Russland und Belarus wirken nur beschränkt: Zum Teil werden sie über Drittländer wie die Türkei, die Arabischen Emirate, Zentralasien oder Belarus umgangen, zum Teil springen China und Iran ein, zum Teil kauft Russland legal Elektronik für den Massengebrauch, die nicht sanktioniert ist, zum Teil verkauft es sein Öl versteckt dank einer sogenannten Schattenflotte, die unter fremder Flagge fährt, zum Teil wird Rohöl verschiedener Herkunft gemischt – unzählige Schlupflöcher bleiben offen. Das russische Bruttoinlandprodukt ist 2023 um 3.6 Prozent gewachsen und Russland gibt für die Armee so viel wie nie seit dem Ende der Sowjetunion aus. An den noch offenen Grenzen zwischen Litauen und Belarus stauen sich die Trucks kilometerlang und warten tagelang. Die einen erzählen, jeder Lkw werde an der Grenze gescreent. Viktor mit seinen griechischen Oliven sagt, er werde kaum kontrolliert.
Viktor klappt eine kleine Küche unter seinem Lkw auf und brät ein Stück Fleisch. Wie ist die Stimmung unter den Truckern? «Kollegial», antwortet er. Ukrainer und Russen gingen sich zwar aus dem Weg, aber die Stimmung sei nicht feindselig. Eher professionell.
Viktor ist für seine Tour anderthalb Monate unterwegs. Und die Weitgereisten sind gastfreundlich: Er serviert uns einen Tee, den er aus Dagestan mitbringt, mit Zucker aus Belarus, und kocht ihn auf einer iranischen Gasflasche. Alles auf seinen Fahrten gekauft. Der hässliche Truckstopp bei Salaperaugis ist ein Schnittpunkt der ganzen Welt – für eine Teelänge.
Kinderstimmen erteilen Marschbefehle. Kindergesichter in gescheckten Kampfuniformen marschieren zu einem Schiessplatz, wo sie mit Luftgewehren üben. Es sind Teenager der «Junior Riflemen», zwischen 11 und 18 Jahre jung.
Wir befinden uns in Kudirkos Naumiestis, einem Dorf direkt an der Grenze zum russischen Kaliningrad. Die «Riflemen» sind eine paramilitärische Miliz von Freiwilligen. Sie unterstützen einerseits die professionelle Armee und sind andererseits für die Territorialverteidigung, also den Schutz der Infrastruktur zuständig. «Wir haben landesweit 15’000 Riflemen in unseren Reihen, darunter 6000 Jugendliche» sagt Egidijus Papeckys, der Kommandant der Region Suwalki. Die Zahl ist beeindruckend, denn die litauische Berufsarmee ist nicht viel grösser. Papeckys ist Jurist, Historiker und hat eine Ausbildung bei der FBI-Akademie in Virginia absolviert. «Die Zahl der Bewerber hat sich seit Ausbruch des Ukrainekriegs verzehnfacht, ebenso das Budget», sagt er. Seine Frau dient ebenfalls bei den Riflemen, auf einem Foto posiert sie mit einem halbautomatischen Gewehr in Camouflage-Uniform. Nicht selten sind ganze Familien Mitglieder der Riflemen.
Vilius ist 18 Jahre jung und stolz darauf, eine Uniform zu tragen. «Sie zeigt, dass ich bereit bin, mein Land zu verteidigen.» Er liebe die Ausbildung in militärischer Taktik, sagt er. Seine Kollegin möchte Soldatin werden. Das einwöchige Camp ist eine Mischung von paramilitärischer Ausbildung und Pfadfinderlager, aber der militärische Touch ist unübersehbar. Es gibt auch eine Fallschirmsprung-Ausbildung für die Älteren. Dazu werden auch Geschichte und Staatsbürgerkunde unterrichtet, erklärt Papeckys. Die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft, inklusive Kinder und Jugendliche ist in Litauen unbestritten. Nur vor einigen Jahren sorgten die sogenannten Young Riflemen weltweit für Negativschlagzeilen, als uniformierte Kinder mit Gewehren durch Dörfer patrouillierten. Heute ist die Ausbildung strenger kontrolliert.
Ähnliche paramilitärische Einheiten trainieren auch in Lettland und Estland. Die litauischen Riflemen kaufen sich ihre Ausrüstung weitgehend selbst. Und seit 2022 haben sie das Recht, automatische Waffen zu kaufen und bei sich zuhause aufzubewahren.
Die Riflemen kämpften in den Wirren nach der ersten Unabhängigkeit 1918 gegen Polen, die Sowjetarmee und Deutsche. Aber als die Rote Armee 1940 nach dem Hitler-Stalinpakt einmarschierte, erhielten sie keinen Befehl, Widerstand zu leisten. «Das wird sich nie mehr wiederholen», sagt Papeckys. Sie unterstünden zwar dem Verteidigungsministerium, aber die Verfassung garantiere jedem Litauer, jeder Litauerin das Recht, das Land zu verteidigen: «Egal, was die Regierung sagt.»
Der Zug aus Moskau pfeift aus dem letzten Loch. Stöhnend erreicht er den litauischen Grenzbahnhof Kybartai, ein Ventil furzt. Die Lok holt Atem. Eine Stunde wird der Zug hier stehen. Die litauische Lok wird gegen eine russische ausgetauscht. Grenzbeamte mit Hunden patrouillieren. Niemand darf aussteigen. Niemand sich mit den Passagieren unterhalten. Wir winken. Eine junge Frau formt mit ihren Händen ein Herz.
Zweimal täglich spielt hier das Stück «Kalter Krieg». Mittags hält der Zug von Moskau nach Kaliningrad am Grenzbahnhof Kybartai, um halb fünf Uhr abends wiederholt sich das Schauspiel in umgekehrter Richtung. Die Bahnsteige sind menschenleer. Zugang ist nur mit Bewilligung des Verteidigungsministeriums erlaubt. Die Grenzbeamten würdigen uns keines Blickes. Sie wissen, wer wir sind. Pass, Bestätigung von SRF aus Bern, Journalistenausweis, die Zeit unseres Eintreffens: Alles haben sie auf ihren Handys gespeichert. Ein kurzes Kopfnicken dient als Erkennungszeichen.
Gitter, Stacheldraht und Sicherheitsschleusen markieren den Grenzübergang für Personen und Autos. 300 russische Lkw werden täglich abgefertigt, binnen 24 Stunden müssen sie Litauen durchquert haben. Eine grüne Wellblechbaracke ähnlich wie die am Checkpoint Charlie in Berlin dient zur Abfertigung von Fussgängern.
Ausgerechnet als wir hier sind, passiert ein Russe die Grenzschleusen. Kolia ist 30 Jahre jung, lebt mit seiner Familie in Kaliningrad und arbeitet als Matrose auf einem lettischen Schiff. Nächste Station ist Spanien. Bisher sei er noch nicht in die russische Armee eingezogen worden.
Hinter den Gittern liegt der Oblast Kaliningrad, eine russische Exklave, ein Drittel so gross wie die Schweiz. Vor 120 Jahren war Kaliningrad deutsch und Litauen russisch. Und über die Grenze wurden verbotene Bücher in litauischer Sprache von Königsberg in Ostpreussen nach Kybartai geschmuggelt. Die Stadt war im 19. Jahrhundert der erste Eisenbahnknotenpunkt zwischen dem Zarenreich und Deutschland.
Heute ist sie gefühlt das Ende der Welt.