Ahmed al-Scharaa ist der Kopf der Islamistenmiliz HTS, die Diktator Baschar al-Assad gestürzt hat – und sich von ihren Wurzeln im Terrornetzwerk Al-Kaida distanziert. Al-Scharaa verspricht ein Syrien für alle, also auch für religiöse Minderheiten. Der Konfliktforscher Emanuel Schäublin sagt, ob es sich um mehr als blosse Rhetorik handelt.
SRF News: Was ist von al-Schaaras Versprechen zu halten?
Emanuel Schäublin: Unter den bewaffneten islamistischen Gruppierungen in Syrien verfolgt al-Scharaa bereits seit mehreren Jahren einen pragmatischen Kurs. Seine Zusicherungen lassen sich einordnen in ein grösseres Bild. Scharaa versteht sich als Teil der syrischen Revolution, deren Ziel die Befreiung von der Repression des Assad-Regimes ist.
Seit 2017 leitet al-Scharaa die Verwaltung der Region Idlib, in der zwei bis drei Millionen Menschen leben. Ihre Versorgung soll in den letzten Jahren besser gewesen sein als in Gebieten unter der Kontrolle der Syrischen Nationalen Armee oder auch des Regimes.
Es gibt Anzeichen dafür, dass al-Scharaa durchaus auf Druck aus der Bevölkerung reagiert.
Nun steht al-Scharaa zumindest vorübergehend an der Spitze von ganz Syrien. Erste Signale gegenüber den Minderheiten wie Drusen und Christen sind durchaus positiv zu werten. Es drängt sich aber die Frage auf, welche politischen Rechte er ihnen zugestehen wird und wie diese in einer allfälligen Verfassung verankert werden können.
Welche Erwartungen haben Sie diesbezüglich?
Es gibt Anzeichen dafür, dass al-Scharaa durchaus auf Druck aus der Bevölkerung reagiert. Das hat sich etwa gezeigt, als der neue Premierminister Mohammed al-Baschir aufgetreten ist. Dort wehte die syrische Flagge neben derjenigen der HTS-Miliz. Das führte zu heftigen Reaktionen. Bei seinem nächsten Auftritt war die HTS-Flagge nicht mehr zu sehen.
Tragen auch die HTS-Kämpfer diese versöhnliche Haltung mit? Immerhin steht die Organisation auf der Terrorliste der Vereinten Nationen.
Die Kämpfer, die sich unmittelbar um al-Scharaa organisieren, tragen sein dezidiert syrisches Projekt mit. In den letzten Jahren hat dies auch immer wieder zu Zerwürfnissen mit anderen islamistischen Gruppierungen in Syrien geführt, vor allem mit dem IS und Al-Kaida. Diese beiden Organisationen verfolgen ein transnationales Projekt.
Al-Scharaa hat in den letzten Jahren auch gezeigt, dass er bereit ist, gewaltsam gegen gegnerische Strömungen unter den islamistischen Gruppierungen vorzugehen und seinen Kurs durchzusetzen. Dennoch lässt sich nicht verleugnen, dass die Kämpfer, die loyal gegenüber al-Scharaa sind, eine äusserst konservative Auslegung des Islams mittragen. Sie möchten wohl auch, dass diese das künftige Syrien prägt.
In der bisherigen Rebellenhochburg Idlib hat die HTS-Miliz quasi regiert. Wie hat ihr Gesellschaftsmodell dort ausgesehen?
Die Bevölkerung in Idlib ist sehr arm. Der HTS versuchte dort zunächst, das Gebiet zu konsolidieren und zu kontrollieren. Dann wurden institutionelle Strukturen aufgebaut, um dem Assad-Regime die Stirn bieten zu können. Die Versorgung soll einigermassen effizient und gerecht funktioniert haben, auch wenn es Korruptionsvorwürfe gab.
Mit Blick auf das Gesellschaftsmodell hat sich unter al-Scharaas Führung zunächst ein gewisser Pragmatismus durchgesetzt. So wurden beispielsweise NGOs zugelassen. Als es aber um Themen wie die Gleichberechtigung von Frauen ging, war die Regierung in Idlib sehr unflexibel.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.