Nach dem Terroranschlag von Moskau rückt der sogenannte Islamische Staat (IS) wieder in den Blick einer breiten Öffentlichkeit. Reklamiert hat den Anschlag mit mindestens 140 Toten der zentralasiatische IS-Ableger Khorasan. Laut den russischen Behörden stammen die vier Haupttäter aus Tadschikistan. Professor Tim Epkenhans von der Universität Freiburg in Deutschland kennt die Zusammenhänge.
SRF News: Wie überraschend ist es, dass die Attentäter von Moskau offenbar aus Tadschikistan stammen?
Tim Epkenhans: Das ist keineswegs überraschend. In Russland leben rund anderthalb Millionen Menschen aus Tadschikistan. Manche von ihnen kommen wegen einer Arbeitsstelle ins Land, manche leben permanent in Russland. Tadschiken sind auch andernorts in Europa bereits im Zusammenhang mit einem Terrorverdacht aufgefallen. So gab es letztes Jahr Hinweise auf Anschläge in Deutschland und Österreich – und die Verdächtigen waren Tadschiken.
Das hat mit der Arbeitsmigration zu tun: Die Tadschiken sind im Ausland oftmals mit Formen von Ausgrenzung und Rassismus konfrontiert. Und in dieser Situation spielt der Islam eine wichtige Rolle als Identifikationsressource. Als Folge sehen wir Netzwerke, die oftmals mit dem IS in Zusammenhang stehen. Dass hier potenziell eine Terrorgefahr besteht, darauf haben Sicherheitsbehörden seit Längerem hingewiesen.
Die Radikalisierung der Tadschiken findet also im Ausland statt?
Das Ganze ist sehr komplex – doch der Migrationskontext spielt sicher eine zentrale Rolle. Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass Tadschikistan ein autoritärer Staat mit einem korrupten Regime ist, in dem ein grosser Teil der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt.
Das IS-Netzwerk ist eine Art Sammelbecken für unzufriedene tadschikische Arbeitsmigranten im Ausland.
Insbesondere junge Männer sehen in Tadschikistan deshalb kaum ökonomische Perspektiven – ausser darin, im Ausland eine Arbeit zu suchen. Und weil das autoritäre tadschikische Regime nur eine sehr enge Interpretation der islamischen Tradition zulässt, kommt es auch im Land selber zu einer Radikalisierung. Kommen also bei Arbeitsmigranten im Ausland Ausgrenzung und Rassismus dazu, kann das zu einer islamistischen Radikalisierung führen. Das IS-Netzwerk ist also eine Art Sammelbecken für unzufriedene tadschikische Arbeitsmigranten im Ausland.
Gibt es ein übergeordnetes Ziel der verschiedenen IS-Gruppierungen?
Man muss sehr vorsichtig damit sein, da Ideologien zentral festzumachen. Zwar versucht sich der IS eine Art zentralisierte, staatliche Strukturen zu geben. Tatsächlich aber ist der IS eher eine Art globalisierter Terrorismus, der nur wenig auf einer islamisch-ideologischen Basis beruht.
Was lässt sich am Anschlag von Moskau über die Stärke des zentralasiatischen IS ablesen?
Das ist kaum quantifizierbar. Der IS Khorasan ist wohl ein sehr loses Netzwerk, der sich stark in den sozialen Medien konstituiert. Der Verfolgungsdruck durch die Behörden in Westeuropa hat in den letzten Jahren stark zugenommen, immer wieder können Anschlagspläne aufgedeckt werden – wenn auch nicht alle. Als Folge des Anschlags von Moskau könnte nun der Rassismus gegen zentralasiatische Arbeitsmigranten in Russland zunehmen, was ihre ökonomische Situation verschlechtern wird. Das wiederum könnte einer Radikalisierung Vorschub leisten – und damit bleibt auch das terroristische Bedrohungspotenzial aufrechterhalten.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.