Unmittelbar nach dem Terroranschlag in Moskau vom Freitag bekannte sich der IS Provinz Khorasan (ISPK) zum Attentat. Nachdem der Islamische Staat 2019 seine letzte Hochburg in Syrien verloren hatte, hofften viele, die Gefahr, die von der Terrormiliz ausgehe, sei gebannt. Jetzt zeigt sich, dass sie nach wie vor zu komplexen Operationen in der Lage ist. Was bedeutet dies für den Westen – und für die Schweiz?
SRF News: Viele fragen sich, ob der IS zurück ist. Sie sagen: Er war nie weg.
Ahmed Ajil: Ja, der IS war effektiv nie weg. Auch nach seiner territorialen Zerstückelung 2019 war er auf den sozialen Medien immer propagandistisch aktiv, vor allem auf Telegram, mittlerweile auch auf Tiktok.
Unterschätzen Regierungen in Westeuropa die Gefahr?
Nein, ich denke nicht. Hier in der Schweiz beschäftigen sich der Nachrichtendienst (NDB), die Bundeskriminalpolizei und die Bundesstaatsanwaltschaft konstant mit diesem Phänomen. So sehr, dass man sich eher fragen muss, ob es anderswo tote Winkel gibt.
Frankreich hat die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Die deutsche Innenministerin sagt, in Deutschland gehe vom ISPK die grösste Gefahr aus. Wie schätzen Sie das ein?
Diese Aussage hat mich erstaunt, da in Deutschland in den letzten Jahren Rechtsextremismus als grösste Gefahr eingestuft wurde. In der Schweiz geht das Risiko laut dem NDB vor allem von Einzeltätern aus, wie wir in Morges, Lugano und Zürich ja tatsächlich gesehen haben.
Das Attentat in Moskau ist in diesem Zusammenhang weniger entscheidend als der Krieg in Gaza. Die Art und Weise, wie dort vorgegangen wird, die zahlreichen zivilen Opfer – das schafft ein Klima, das zu einer Radikalisierung beitragen kann.
Sie haben für Ihre Forschung Interviews mit Radikalisierten in der Schweiz geführt, die nach Syrien gereist sind, teilweise bewaffnet. Wie müssen wir uns diese Begegnungen vorstellen?
Das Bild, das wir von Terroristen haben, stimmt oft nicht mit der Realität überein. Das sind ganz normale Menschen. Das hätte auch ich sein können. Der Unterschied ist wohl, dass ich eine soziale Einbettung habe, die mir nie die Möglichkeit gegeben hat, mich so von der Gesellschaft zu distanzieren. Und es sind Menschen, die sehr viel Empathie haben – für jene, für die sie sich einsetzen.
Das überrascht. Wie kann jemand empathisch sein, der andere Menschen auf brutale Art und Weise tötet?
Die Empathie umfasst eine bestimmte Zielgruppe. Eine Person hat mir zum Beispiel erzählt, dass sie 2011 auf Facebook Bilder von Zivilisten in Syrien sah, die tote Babys in die Kamera hielten und fragten, warum die Muslime ihnen nicht helfen würden. Das aktiviert ein Schuldgefühl. Natürlich kommen aber weitere, biografische Faktoren dazu.
Was kann man hier in der Schweiz tun, um der Radikalisierung entgegenzuwirken?
Es wird schon sehr viel gemacht. Im Kern geht es um die soziale Einbindung dieser jungen Menschen. Und darum, sie zu sensibilisieren, was den Umgang mit gewalttätigen Bildern und Verschwörungstheorien auf den sozialen Medien angeht.
Das Gespräch führte Barbara Lüthi.