Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan reist heute nach Washington. Die Liste der Krisen zwischen der Türkei und den USA ist lang: Auf US-Präsident Donald Trump wurde im Vorfeld Druck ausgeübt, Erdogan auszuladen – dieser wollte, nachdem der US-Kongress das türkische Massaker an den Armeniern als Völkermord anerkannt hatte, gar nicht mehr anreisen. Doch es steht für beide viel auf dem Spiel, wie Politologe Thomas Jäger erklärt.
SRF News: Wo brennt es derzeit am meisten?
Thomas Jäger: Die Staaten haben ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Die USA wollen die Türkei von einer weiteren Annäherung an Russland abhalten. Der Türkei geht es darum, freie Hand in Nordsyrien zu haben.
Wie steht es um Erdogans Erfolgschancen?
Er hat die Situation, dass Trump seine Truppen aus dem nordsyrischen Gebiet herausgeführt hat, als Freibrief gesehen. Die USA kritisieren seit Jahren die undemokratischen Entwicklungen in der Türkei. Aber dieser Angriff auf die Kurden hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Für die USA ist klar: Es geht nicht, dass ein Nato-Verbündeter die kurdischen Truppen, die der Verbündete der Amerikaner sind, militärisch angreift.
Das heisst, Erdogan muss die Wogen glätten – worin er gar nicht so gut ist. Was er dagegen genau so gut kann wie Trump, ist Druck aufzubauen. Er hat den Europäern gedroht, Flüchtlinge über die türkische Grenze zu schicken, und den USA damit, mit Russland in ein engeres Verhältnis zu kommen. In der türkischen Wahrnehmung bemühen sich die USA nicht nur nicht um die Sicherheit der Türkei, sondern gefährden diese geradezu.
Was will Trump erreichen?
Die türkische Regierung hat sich entschieden, ein russisches Raketenabwehrsystem zu kaufen. Gleichzeitig würde sie an den technologischen Entwicklungen in der Nato teilnehmen. Das wollten die USA verhindern, indem sie die Türkei aus den militärischen Programmen der Nato rausgeworfen haben. Das ist aber ein Problem für das Bündnis: Die Türkei stellt in der Nato die zweitgrösste Truppe und ist geostrategisch wichtig. Also möchte man sie wieder integrieren. Trumps Herausforderung ist: Wie kann er Erdogan dazu bringen, auf das Raketensystem zu verzichten, das bereits geliefert ist?
Ist ein Kompromiss überhaupt möglich?
Das ist genau die Frage. Finden Erdogan und Trump ein Koppelgeschäft, geht das wahrscheinlich auf Kosten der Europäer. Können sie sich nicht einigen, ist das sowohl für die Türkei, die USA wie auch für Europa schlecht, denn die Nato würde dadurch deutlich geschwächt.
Trumps Sprunghaftigkeit dürfte seine Mitarbeiter zittern lassen – sie können nur beeinflussen, mit welchen Positionen er ins Gespräch hineingeht.
Trump wechselt häufig seine Meinung. Was bedeutet das für den Ausgang des Gesprächs?
Das ist ein Vorteil der türkischen Seite. Erdogan wird seine Position, zumindest rhetorisch, durchhalten. Ob er Zugeständnisse in der Sache machen muss, die er dann nicht verkündet, ist möglich. Trumps Sprunghaftigkeit dürfte seine Mitarbeiter heute zittern lassen – sie können nur beeinflussen, mit welchen Positionen er in das Gespräch hineingeht.
Wer wird vom Treffen profitieren?
Meine Vermutung ist, dass die Türkei und Russland die beiden Gewinner dieser Gespräche sein werden, weil Erdogan den grösseren Druck aufbauen kann; er ist eskalationsbereiter als die USA. Erdogans Wähler wollen wissen, was ihr Präsident herausholt, während Trumps Wähler nicht so sehr daran interessiert sind, wie das Verhältnis zur Türkei ist oder wie sich die Lage in Syrien gestaltet. Und wenn Erdogan freie Hand erhält, werden auch die russisch-türkischen Beziehungen intensiver werden. Verliererin wäre dabei letztlich die Nato.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.