Die türkische Invasion in Nordsyrien setzt die kurdischen Kämpfer unter Druck, die bislang gegen die Terrormiliz IS gekämpft hatten. Dadurch könnte der IS wieder erstarken, sagt der Journalist und Kenner der Region, Yassin Musharbash.
SRF News: Was weiss man über die von den Kurden festgehaltenen IS-Kämpfer und Angehörigen?
Yassin Musharbash: Es gibt rund ein Dutzend Gefängnisse und Camps, in denen IS-Kämpfer und deren Angehörige in Nordsyrien festgehalten werden. Insgesamt geht es um mehrere Zehntausend festgehaltene Personen. Rund 2000 inhaftierte IS-Kämpfer und ihre Angehörigen stammen aus westlichen Ländern. Diese waren in drei Camps untergebracht, wovon eines inzwischen von den Kurden aufgegeben wurde. Rund 800 Frauen sind daraus geflohen.
Wir gehen davon aus, dass der IS einige Gefängnisse angreifen wird.
Berichte über massenhafte Ausbrüche oder Befreiungen von früheren IS-Kämpfern gibt es bislang keine. Wir gehen aber davon aus, dass der IS das vorhat und einige der Gefängnisse angreifen wird. Es ist dies eine altbewährte Taktik des IS. Das muss aber nicht sofort passieren. Der IS hat Zeit.
Würden sich die befreiten IS-Kämpfer alle wieder von der Terrormiliz rekrutieren lassen?
Wahrscheinlich nicht alle. Auch unter den Angehörigen aus dem Westen haben sich manche glaubhaft vom IS losgesagt. Doch die Erfahrung lehrt, dass sowohl der IS als auch Al-Kaida nach Befreiungen einen Grossteil der Leute wiedereingliedern konnte. Tatsächlich wurde ein Teil der IS-Führung vor Jahren im Irak selber aus Gefängnissen befreit. Deshalb bahnt sich hier womöglich eine gefährliche Entwicklung an.
Die Inhaftierten befürchten, von Assad-Kräften vergewaltigt und ermordet zu werden.
Werden die Camps und Gefängnisse derzeit noch ausreichend bewacht?
Ja. Doch ein mögliches Szenario besteht darin, dass entweder die heranrückenden türkischen Truppen oder Assad-Kräfte die Camps übernehmen könnten. Davor haben die Insassen wahnsinnige Angst. Entsprechend angsterfüllt, nervös und hysterisch ist die Stimmung in diesen Lagern. Die Inhaftierten befürchten, etwa durch Assad-Kräfte vergewaltigt und ermordet zu werden.
Bestehen unter den syrischen Kämpfern, die für die Türkei gegen die Kurden kämpfen, Sympathien für den IS?
Dazu gibt es hartnäckige Gerüchte, doch ich kann das nicht aus eigener Recherche bestätigen. Ich halte diese Gerüchte jedoch für übertrieben, es ist wohl auch Propaganda der Gegenseite mit im Spiel. Man kann das jedoch auch nicht ganz ausschliessen, denn einige der mit den Türken assoziierten Rebellentruppen sind arg islamistisch-dschihadistisch geprägt. Sie haben sicher zumindest ideologische Sympathien für den IS. Manche von ihnen haben auch Kriegsverbrechen an kurdischen Kämpfern verübt. Da sind einige sehr unappetitliche Figuren dabei, denen ich so etwas durchaus zutraue.
Es tritt genau jenes Szenario ein, vor dem Experten seit Monaten gewarnt haben.
Profitiert der IS also von der aktuellen Situation in Nordsyrien?
Die letzten Wochen brachten für den IS gute Nachrichten – das muss aber nicht so bleiben, denn die Situation ist sehr schwierig einzuschätzen und sehr beweglich. Aber im Moment ist der IS sicher Profiteur der Lage. Es tritt genau jenes Szenario ein, vor dem Experten seit Monaten gewarnt haben.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.