Vor rund einem Jahr begann die Türkei eine militärische Offensive gegen die Kurden in Nordsyrien und übernahm die Kontrolle über die Region «Rojava». Seither kontrolliert Ankara einen Korridor an der Grenze zur Türkei. Dies sei ein Faustpfand, um bei Verhandlungen über die Zukunft Syriens mitzureden, sagt der Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Wie ist die aktuelle Lage im von der Türkei kontrollierten syrischen Gebiet?
Thomas Seibert: Derzeit gibt es dort keine grösseren Gefechte – doch von Stabilität kann auch keine Rede sein. Erst am Donnerstag gab es Berichte über den Beschuss mehrerer Dörfer durch Milizen, die mit Ankara verbündet sind. Auch kommt es immer wieder zu Zusammenstössen zwischen russischen und amerikanischen Soldaten in dem Gebiet.
Wie hat sich der Alltag der dort lebenden Menschen seit der türkischen Invasion verändert?
Laut der Türkei blüht die Region auf, weil sie vom Joch der kurdischen Autonomiebehörden befreit sei. Es gebe Wochenmärkte, die Bauern könnten ihre Felder wieder bestellen. Doch die Kurden beschreiben die Lage viel pessimistischer. Erst gerade hiess es etwa, Ankara-treue Milizen hätten den Bauern Schafe gestohlen. Laut den kurdischen Behörden ausserhalb des türkisch besetzten Gebiets wirkt sich die türkische Besatzung negativ auf die Bevölkerung aus.
Die Türkei führt auch in ‹Rojava› die türkische Lira als Zahlungsmittel ein.
In anderen von der Türkei kontrollierten Gebieten – wie etwa weiter westlich um die kurdische Stadt Afrin – hat Ankara damit begonnen, zivile Infrastrukturen aufzubauen. So ist dort etwa die türkische Post aktiv. Tut Ankara das auch in «Rojava»?
Damit beginnt die Türkei jetzt. So wird auch in «Rojava» die türkische Lira als Zahlungsmittel eingeführt, auch werden noch immer militärische Verstärkungen in das Gebiet eingeschleust. Das Gebiet wird also näher an die Türkei angebunden.
Die Kurdenmilz YPG musste sich nach dem türkischen Einmarsch zurückziehen. Wo steht sie jetzt?
Ausserhalb des etwa 100 Kilometer breiten Landstreifens an der Grenze zur Türkei hat die YPG ihre Position behaupten können. Sie arbeitet auch immer noch mit der US-Armee zusammen und versucht, ihr Autonomiemodell zu retten. Zudem ist die YPG immer noch zuständig für mehrere Gefangenenlager, in denen Tausende ehemalige IS-Kämpfer und ihre Angehörigen einsitzen.
Den mit der Türkei verbündeten syrischen Milizen werden Plünderungen und Vergewaltigungen vorgeworfen.
Ein UNO-Bericht wirft den mit der Türkei verbündeten Milizen vor, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben und macht die Türkei dafür mitverantwortlich. Wie ist das einzuschätzen?
Diese syrischen Milizen sind ein wichtiger Bündnispartner für die Türkei. Ihnen werden seit längerem Plünderungen und Vergewaltigungen vorgeworfen. Die Türkei weist diese Vorwürfe zurück. Allerdings wird das Verhalten der Milizen, das militärische ausgenommen, von Ankara nicht kontrolliert.
Was sind die langfristigen Ziele des türkischen Präsidenten Erdogan mit den besetzten syrischen Gebieten?
Ankara will einen Fuss in der Türe haben, wenn es dereinst um die Verhandlungen über die Zukunft Syriens geht. Die türkisch besetzten Gebiete sind also eine Art Faustpfand, um bei Gesprächen mit am Tisch zu sitzen. Der Türkei geht es dabei vor allem um die Frage, wie viel Mitbestimmungsrecht die Kurden dereinst bekommen sollen. Sie will auf jeden Fall verhindern, dass es in der Nähe ihrer Grenze ein Gebiet kurdischer Selbstverwaltung gibt. Grundsätzlich will die Türkei in Syrien ein Regime, das für sie tragbar ist.
Das Gespräch führte Christine Scheidegger.