«Meine Geschwister, nun werden wir in den Norden des Euphrats einrücken!» Am Wochenende hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Anhänger auf eine Offensive in Nordsyrien eingeschworen. Man habe Russland und die USA über den Plan informiert: «Die Geduld der Türkei geht zu Ende.»
Bereits Ende Juli hatte Erdogan nach gescheiterten Gesprächen mit den USA eine Offensive angekündigt: «Wir sind entschlossen, den Terrorkorridor zu zerstören.» Das Gebiet wird von der Kurdenmiliz YPG kontrolliert.
Allerdings: Die Kurdenmiliz aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet zu vertreiben, dürfte schwierig werden, glaubt NZZ-Korrespondentin Inga Rogg: «Die YPG betrachtet die Türkei als Feind und wird die Errichtung einer Pufferzone nicht akzeptieren.»
Ankara fordert schon seit Jahren eine Pufferzone im von der Kurdenmiliz YPG beherrschten Gebiet in Nordsyrien. Sie will, dass sich die YPG von dort zurückzieht, und hat wiederholt mit einer Offensive gegen die Kurdenmiliz gedroht.
Politische Lösung nicht in Sicht
Ankara sieht in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation: «Die Türkei befürchtet, dass sich im nordsyrischen Gebiet ein Semi-Staat unter Kommando der PKK etabliert», erklärt Rogg.
Die Journalistin bezweifelt allerdings, dass eine militärische Invasion viel bringen würde. Langfristig könne es nur eine politische Lösung des schwelenden Konflikts geben: «Erdogan muss wieder mit der PKK oder auch mit der YPG verhandeln.»
Der IS mag territorial besiegt sein. Er hat aber weiterhin Kämpfer im Untergrund und reorganisiert sich.
Der türkische Präsident ist derzeit angeschlagen. Zuletzt hat er den Machtkampf um das Stadtpräsidium von Istanbul verloren. Die Opposition wittert Morgenluft. Auch die Wirtschaft ist in Schieflage. Greift er nun zu Kriegsrhetorik, um sich als starken Mann zu positionieren?
Rogg relativiert: Innenpolitische Gründe könnten zwar eine Rolle spielen. Allem voran, um die bröckelnde Regierungskoalition zu beleben. Denn das Lebenselixier von Erdogans ultrarechtem Koalitionspartner, der MHP, sei der kompromisslose Kurs gegen die Kurden.
Erdogan will Verhandlungsposition stärken
Zudem verspricht sich Erdogan von einer Pufferzone im Grenzgebiet, dass hunderttausende syrische Flüchtlinge aus der Türkei dort angesiedelt werden könnten. In der Türkei leben etwa drei Millionen Menschen, die vom Krieg im Nachbarland geflohen sind. Der Unmut in der Bevölkerung wächst.
Entscheidend sind für Rogg aber die amerikanisch-türkischen Beziehungen. Beide Seiten haben komplett unterschiedliche Sichtweisen auf den Konflikt in Syrien. Für die USA ist die YPG ein wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat»: «Der IS mag territorial besiegt sein. Er hat aber weiterhin Kämpfer im Untergrund und reorganisiert sich», sagt Rogg. Die YPG sei nach wie vor die schlagkräftigste Miliz, um eben dies zu verhindern.
Seit einem Jahr laufen die Verhandlungen zwischen Washington und Ankara über die Errichtung einer türkisch kontrollierten Pufferzone. Bislang ohne Erfolg. Erdogan drohe nun sicher auch, um seine Verhandlungsposition gegenüber den Amerikanern zu stärken. Trotzdem sollte man ihn nicht unterschätzen, schliesst die Nahost-Expertin: «Schon letztes Jahr hat kaum jemand mit einer Offensive gegen die YPG gerechnet – und Erdogan hat sie trotzdem gestartet.»