Canan Kaftancioglu gilt als eine der einflussreichsten Politikerinnen der Türkei. Sie ist Chefin der grössten Oppositionspartei CHP in der Wirtschaftsmetropole Istanbul. Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnet sie als Terror-Unterstützerin. Die türkische Justiz tut das nun auch. Kaftancioglu wurde in zweiter Instanz zu fast zehn Jahren Haft verurteilt.
Die führende Oppositionspolitikerin habe Terrorpropaganda verbreitet, den türkischen Staat herabgewürdigt und den Präsidenten beleidigt, so das Gericht. Kaftancioglu kann das harte Urteil noch vor dem höchsten Gericht anfechten.
Die Vorwürfe beziehen sich auf verschiedene Erdogan-kritische Twittermeldungen aus den letzten acht Jahren. In einem Tweet zitierte sie ein Mitglied der verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK.
Kaftancioglu steht für eine neue Opposition
Es ist ein politisches Urteil – daran besteht für den in Istanbul lebenden Journalisten Thomas Seibert kein Zweifel. «Es ist auch ein Fingerzeig, dass das Urteil am Jahrestag der Wahl des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu bekannt gegeben wurde. Kaftancioglu war die Architektin dieses Wahlsieges, der Erdogan eine empfindliche Niederlage zugefügt hat.» Zum ersten Mal seit 25 Jahren regiert in Istanbul die Opposition.
Kaftancioglu sei ein «unglaubliches politisches Talent», so Seibert: «Sie hat es geschafft, ihre sonst träge Partei auf Trab zu bringen. Sie steht für eine neue Generation in der türkischen Opposition, die neue Wege findet, Wähler anzusprechen. Das ist eine neue politische Bedrohung für die AKP. Und Kaftancioglu ist eine Symbolfigur für diesen Trend.»
Eine neue politische Bedrohung für die AKP – und Kaftancioglu ist eine Symbolfigur für diesen Trend.
Ihre Verurteilung sei ein Zeichen des steigenden Drucks auf die CHP, sagt der Journalist. «Es gibt seit längerem Bestrebungen der Regierung, die Opposition als Gruppe von Landesverrätern hinzustellen. Es laufen auch Prozesse gegen andere CHP-Politiker.»
So wurde ein Parlamentsabgeordneter vor kurzem seines Mandats enthoben und ins Gefängnis gesteckt. Aber auch mehrere Mitglieder der anderen grossen Oppositionspartei im Lande, der pro-kurdischen HDP, sitzen im Gefängnis.
Gerüchte über vorgezogene Neuwahlen
In der Türkei gibt es Spekulationen und Gerüchte über vorgezogene Neuwahlen – der reguläre Wahltermin ist erst 2023. Bestimmte Pläne der Regierung, zum Beispiel zur Änderung des Wahlrechts, tragen zu den Gerüchten bei. «Falls dem so ist, würde es natürlich Sinn ergeben, so fähige Organisatorinnen wie Kaftancioglu kalt zu stellen.»
Kaftancioglu wird nun vor das Verfassungsgericht ziehen. «Dieses ist noch einigermassen unabhängig, während grosse Teile der Justiz unter dem Einfluss der Regierung stehen», sagt Seibert. «Es könnte eine Korrektur des Urteils geben. Wenn das nicht funktioniert, will sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wenden.»
Der EGMR hat die Türkei schon mehrmals wegen unrechtmässig inhaftierten Medienschaffenden und Personen aus der Politik kritisiert. «Ob sich die Türkei dann an ein solches Urteil aus Strassburg halten würde, steht auf einem anderen Blatt.« Fest stehe aber: «Diese Saga um Kaftancioglu ist noch nicht zu Ende. Aber der politische Druck auf die Opposition steigt weiter.»