Die Nato hat ihre Mitgliedstaaten aufgerufen, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen gegen Militärziele in Russland zu gestatten. Die Zeit sei gekommen, einige Einschränkungen für den Einsatz der bereitgestellten Waffen aufzuheben, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Antworten rund um die Diskussion hat Judith Huber. Sie ist bei Radio SRF für die Berichterstattung über die Ukraine zuständig.
Warum flammt die Diskussion gerade jetzt auf?
Der Grund ist die dramatische Lage in Charkiw, der zweitgrössten Stadt des Landes. Sie liegt nahe der russischen Grenze. Die Millionenstadt wird seit Wochen von den Russen täglich aus der Luft angegriffen. Zivilisten sterben, Haus um Haus wird zerstört oder beschädigt. Russland, so scheint es, darf die Stadt uneingeschränkt terrorisieren. Hinzu kommt der Vorstoss der Russen auf Charkiw am Boden. Er konnte inzwischen zwar gestoppt werden. Doch weil die Ukrainer die westlichen Waffen bisher nicht auf russisches Gebiet abfeuern durften, konnten sie nichts gegen den Aufmarsch der Russen tun.
Ist das der einzige Grund für das Vorrücken der Russen?
Nein. Dazu beigetragen haben auch die verzögerten Waffenlieferungen aus dem Westen, insbesondere der Mangel an Munition. Zudem hat es die Ukraine nicht geschafft, genügend neue Soldaten zu mobilisieren und auszubilden. Ein weiterer Faktor ist, dass die ukrainische Führung zu spät und zu wenig systematisch Verteidigungslinien bauen liess. Es gibt also auch Versäumnisse auf ukrainischer Seite.
Was bedeutet die Erlaubnis zum Einsatz der Waffen?
Seit Beginn des Krieges wusste Russland, dass die Ukraine die überlegenen westlichen Waffen nicht dazu benützen darf, Ziele in Russland anzugreifen. Die ganze Militärlogistik, die Truppenbasen, die Nachschubrouten, die Flugfelder und Raketensysteme waren lediglich durch ukrainische Drohnen bedroht, konnten aber ansonsten gefahrlos operieren. Die Russen konnten also vor den Augen der Ukrainer Truppen nahe der Grenze zusammenziehen. Wenn nun die Ukrainer die westlichen Waffen einsetzen könnten, würde Russlands Kriegsführung stark erschwert, weil es seine Truppen weiter weg ins Landesinnere verlegen müsste.
Würde der Westen Moskau so nicht provozieren?
Die Ukrainer und viele auch westliche Experten sagen, dass diese Ängste unbegründet sind. Denn bisher hatte jede angebliche rote Linie der Russen, die überschritten wurde, keine Folgen. So etwa bei der Zerstörung russischer Kriegsschiffe oder dem Beschuss von Zielen auf der von Russland annektierten Krim. Der Westen muss sich auch fragen, ob man die Ukraine in ihrer Kriegsführung weiterhin derart einschränken soll und das Land immer mehr zerstört wird. Der Kreml hat inzwischen auf die Worte von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reagiert und der Nato vorgeworfen, bei der Diskussion in eine «kriegerische Ekstase» zu verfallen.
Was sagt das Völkerrecht?
Die Ukraine darf sich verteidigen, keine Frage. Das umfasst das Recht, legitime militärische Ziele auch auf russischem Territorium anzugreifen. Das westliche Nein ist also vor allem von politischen Überlegungen geleitet.