Der russische Präsident Wladimir Putin anerkannte am Montag formell die Souveränität der ukrainischen Separatistengebiete und hielt dazu eine einstündige Rede. Was hinter dem emotionalen Auftritt steckt, erläutert Jens Siegert. Er lebt seit 1993 in Moskau.
SRF: Sie haben am Montagabend Putins Rede mitverfolgt. Diese war aussergewöhnlich emotional...
Jens Siegert: Ja, die war sehr, sehr emotional. Er hat sie deutlich nicht abgelesen, obwohl er unheimlich viele Zahlen und Daten genannt hat. Ich hatte das Gefühl, dass es eine ehrliche Rede war, im Sinne von «er sagt das, was er meint».
Warum war Putin bei der Rede so aufgekratzt?
Niemand kann in seinen Kopf schauen. Aber ich habe das Gefühl, dass das eine Kulmination der letzten 15 Jahre ist. Putin sucht so etwas wie eine Entscheidungsschlacht. Und das nimmt ihn wahrscheinlich auch persönlich mit.
Es gab vor dieser Rede eine Sitzung des Staatssicherheitsrats in Moskau. Da hat Putin die gesamte politische Elite ausdrücklich dazu aufgerufen, diese Entscheidung, die beiden sogenannten Republiken in der Ostukraine anzuerkennen, zu unterstützen. Die Leute waren nervös und auch Putin ist mehrfach emotional aus sich heraus gegangen.
Putin und der Kreml sind unter Druck. Eine ARD-Russlandkorrespondentin spricht von einer Kränkung Putins. Woher kommt diese Verletztheit?
Es ist der Zerfall des russischen Imperiums, der ihn kränkt. Die Sowjetunion war über 40 Jahre lang, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, eine von zwei Supermächten mit den USA zusammen. Und diese grosse Macht ist unter seinen Augen implodiert. Russland war keine Grossmacht mehr. Bis hin dazu, dass Obama Russland eine Regionalmacht genannt hat.
Viele Menschen hier haben die Meinung, dass Russland das natürliche oder das historisch erworbene Recht hat, ein Imperium zu sein.
Das ist eine Kränkung, die offensichtlich sehr tief sitzt. Viele Menschen hier haben die Meinung, dass Russland das natürliche oder das historisch erworbene Recht hat, ein Imperium zu sein.
Es sind über 30 Jahre vergangen seit dem Zerfall der Sowjetunion. Wäre es nicht Zeit, einen Schritt weiterzugehen?
Es ist eher umgekehrt. Wir waren schon mal einen Schritt weiter. In den 90er-Jahren und auch zu Beginn von Putins Präsidentschaft Anfang der 2000er-Jahre wäre so etwas, was wir im Moment erleben, nicht denkbar gewesen. Von russischer Seite wird das aber anders erklärt.
In den 90er-Jahren und auch zu Beginn von Putins Präsidentschaft Anfang der 2000er-Jahre wäre so etwas, was wir im Moment erleben, nicht denkbar gewesen.
Es wird erklärt, dass Russland in den 90er-Jahren schwach war und der Westen dies ausgenutzt hat. Das hat der Westen aktiv herbeigeführt, um Russland zu vernichten, weil der Westen immer schon gegen Russland gewesen ist. Inzwischen hat sich Russland unter Putin aufgerappelt. Das Land ist nun in der Lage, die Zugeständnisse, die man hat machen müssen, so weit wie möglich zu revidieren.
Warum kommt es jetzt zu dieser Eskalation? Warum ist diese Kränkung jetzt gross genug, um zu handeln?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, Putin und das Land fühlen sich stark genug. Die Schwächeperiode der 90er-Jahre ist ökonomisch und auch militärisch inzwischen überwunden. Eine andere Interpretation ist, die Stärke Russlands ist eine relative Stärke. Es wird erkannt, dass eine Position wie die Sowjetunion als der Gegenpart zu den USA kaum mehr zu erreichen ist.
Es gibt aber im Moment ein «window of opportunity», ein Möglichkeitsfenster, noch etwas herauszuholen. Die USA sind mit China beschäftigt. Die Europäer sind aus russischer Sicht machtpolitisch gesehen militärisch schwach, was wahrscheinlich auch nicht ganz falsch ist.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.
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