Die Stadt Mykolajiw ist seit Beginn von Russlands Grossoffensive im Februar fast jeden Tag beschossen worden. Für Aussenstehende ist es nur schwer vorstellbar, doch für die Menschen in der Stadt ist der Krieg im Verlauf der Monate zu etwas beinahe Alltäglichem geworden: «Wenn es in der Nacht keine Beschüsse gibt, schlafe ich schlecht. So fest habe ich mich schon daran gewöhnt. Dieses Problem habe nicht nur ich, sondern viele Leute hier», erzählt der Gouverneur von Mykolajiw, Witali Kim.
Ein Leben in Unsicherheit
Kim wurde in den vergangenen Monaten zum Symbol für den Widerstand gegen Russlands Angriffskrieg an der südlichen Front im Land. Mit seinen Videoansprachen und seiner direkten und offenen Art fand er grossen Zuspruch unter vielen Ukrainerinnen und Ukrainern.
Wenn es in der Nacht keine Beschüsse gibt, schlafe ich schlecht. So fest habe ich mich schon daran gewöhnt.
Doch auch, wenn zu Beginn des Monats September die Stadt zum ersten Mal seit Februar für mehrere Tage hintereinander nicht beschossen wurde, so sei man weit davon entfernt, ein Leben in Sicherheit führen zu können, so Witali Kim: «Es gibt zurzeit keinen absolut sicheren Ort in der Stadt. Es kommt auf die Waffen an, welche von den Russen benutzt werden. Am 29. März haben die Russen unsere regionale Verwaltung angegriffen.»
Der Zufall entscheidet über Tod oder Leben
Beim Angriff auf die Regionalverwaltung kamen 37 Mitarbeitende ums Leben. Hätte die russische Armee die Rakete eine Stunde später abgefeuert, hätten sich 140 Personen mehr im Gebäude befunden. Viele Mitarbeiter entkamen nur durch Zufall dem sicheren Tod.
Einer von ihnen, Dmitri, führt uns durch die zerstörten acht Stockwerke, vorbei an Wänden mit Blutspuren. Von der Ostseite des Gebäudes ist der Blick frei über die leicht hüglige Sandlandschaft in Richtung der besetzten Gebiete. Es sind von Mykolajiw knapp 60 Kilometer bis zur von Russland besetzten Stadt Cherson.
Nachdem es der ukrainischen Armee gelungen war, weite Gebiete im Nordosten des Landes zu befreien, ist die Hoffnung gross, dass sich auch andernorts die Frontlinie verschiebt. Die ukrainische Armee präsentiert vor Ort russische Militärtechnik, die kürzlich an der Front ergattert werden konnte. Diese Kriegstrophäen sollen in einer Werkstatt der ukrainischen Armee wieder einsatzbereit gemacht werden.
Anzeichen für Kämpfe an der Front
Für Reparateur Jaroslav sind die Waffen aus russischer Produktion keine Neuheit. Er repariert für die ukrainische Armee seit 2015 Waffen, welche im Krieg mit Russland beschädigt werden. «Als der Krieg begann, wurden Experten für die Reparatur von Waffen überall im Land verteilt. Wir haben aber nicht genügend Spezialisten. Wir haben nicht genügend ausgebildet.»
In den vergangenen Wochen habe die Arbeit zugenommen, erzählt er in der dunklen Werkstatt: «Die Art der Schäden hat sich stark verändert; es gibt viele wegen Beschuss. Haben wir vorher vor allem wegen Verschleiss repariert, so sind es jetzt oft mechanische Schäden, beispielsweise durch Splitter oder durch direkten Beschuss.» Dies könnte Zeichen dafür sein, dass es an der Front zunehmend zu Kämpfen kommt.
Schwieriges Terrain
Überprüfen können wir das nicht, denn die ukrainische Armee erteilt uns keine Bewilligung, um näher an der Frontlinie zu filmen. Es sei zu gefährlich, und die Gegenoffensive dürfe nicht gefährdet werden.
Die Landschaft vor Ort (im Süden, Anm. d. Red.) erlaubt es uns nicht, uns so schnell vorwärtszubewegen.
Im Gespräch zeigt sich ein Vertreter der Armee zuversichtlich, die besetzten Gebiete im Süden befreien zu können: «Wir haben nicht nur einfach Hoffnung, wir sind uns dessen sicher. Wir haben uns sehr lange darauf vorbereitet. Die Ausgangslage im Donbass – konkret in der Region von Charkiw – unterscheidet sich allerdings von der Ausgangslage hier im Süden. Die Landschaft vor Ort erlaubt es uns nicht, uns so schnell vorwärtszubewegen.»
Zwischen den Fronten
Je näher die Front an die besetzten Gebiete vorrücke, umso gefährlicher werde dort das Leben für die Menschen, befürchtet Journalist Konstantin Ryschenko. Er lebte bis vor kurzem in der besetzten Stadt Cherson und ist in die Hauptstadt Kiew geflüchtet: «Die Gefahr nimmt zu, je näher die ukrainische Armee an die Stadt vorrückt. Diese Woche hat die ukrainische Armee den Militärstützpunkt der Russen in der Stadt angegriffen, und den ganzen Tag sind die Russen rund um diese Militärbasis herum ausgerückt und haben Wohnungen durchsucht und Leute geschlagen.»
Grund für seine Flucht war jedoch nicht die sich nähernde Front, sondern die Bedrohung für ihn als Journalist: «Die lokalen Behörden haben einen Aushang gemacht. Über das soziale Netzwerk Telegram haben sie über den Kanal der Besatzungsmacht erklärt, sie würden für Journalisten ein Kopfgeld bezahlen.»
Warten auf den Tag der Befreiung
Unabhängig vom Beruf lebe zurzeit niemand sicher in der Stadt, erzählt uns ein Einwohner von Cherson, der sich noch immer in der Stadt aufhält: «Wie soll man sich auch nicht fürchten, wenn du nicht weisst, weswegen die Besatzer zu dir kommen? Morgen werden sie dich vielleicht aus deinem Haus zerren und in unbekannte Richtung verschleppen.»
Der Bewohner von Cherson ist überzeugt, dass eine Mehrheit der Menschen in der Stadt auf die Befreiung durch die ukrainische Armee warte. Viel mehr als das bleibt ihnen auch nicht übrig. Bis zur Befreiung von Cherson dürfte es mindestens Ende Jahr werden.