Die Möglichkeit einer Entsendung europäischer Bodentruppen in die Ukraine wird zunehmend diskutiert. Der Analyst und Militärberater Franz-Stefan Gady beleuchtet die aktuelle Lage – und mögliche Szenarien.
SRF News: Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation für die Ukraine?
Franz-Stefan Gady: Die Lage an der Front ist zwar noch nicht katastrophal, aber zweifellos äusserst prekär. Es gibt deutliche Unterschiede in den verschiedenen Frontabschnitten. Besonders im Süden des Donbass, in der Region um Donezk, erzielen die russischen Streitkräfte rapide Geländegewinne.
Die Russen machen gelegentlich Fortschritte, doch im Grossen und Ganzen hält die ukrainische Verteidigungslinie.
In den kommenden Wochen wird sich zudem zeigen, was in der russischen Region Kursk geschieht, wo eine grössere russische Gegenoffensive vorbereitet werden könnte. Der Rest der Front bleibt aktuell relativ stabil. Zwar machen die Russen gelegentlich Fortschritte, doch im Grossen und Ganzen hält die ukrainische Verteidigungslinie. Der eklatante Personalmangel bei den ukrainischen Streitkräften ist jedoch ein gravierendes Problem. Insbesondere fehlt es an gut ausgebildeter Infanterie.
Die Entsendung europäischer Soldaten wird erneut diskutiert. Was halten Sie davon?
Diese Diskussion ist notwendig, denn sie betrifft die fundamentalen Interessen Europas. Wenn wir der Meinung sind, dass die Ukraine ein Schlüssel für die europäische Sicherheitsarchitektur im Osten ist und wir es nicht zulassen können, dass sie unter russische Dominanz gerät, dann muss über die Entsendung von Truppen nachgedacht werden.
Der Konflikt würde eine nukleare Dimension erhalten, was das Risiko erheblich erhöht.
Das hätte allerdings weitreichende Konsequenzen. Ein solches Vorgehen würde faktisch bedeuten, dass Europa in einen direkten Kriegszustand mit Russland eintreten könnte – eine Entscheidung, die gut abgewogen werden muss. Zudem würde der Konflikt dadurch eine nukleare Dimension erhalten, was das Risiko erheblich erhöht.
Russland hat möglicherweise eine nuklearfähige Mittelstreckenrakete in der Ukraine eingesetzt. Ist Russland eine verantwortungsbewusste Nuklearmacht?
Im Moment sehe ich Russland nicht als verantwortungsbewusste Nuklearmacht. Der Einsatz einer nuklearfähigen Mittelstreckenrakete in der Ukraine ist ein klares Signal, das weniger an die USA als vielmehr an Europa gerichtet war. Mit solchen Waffen könnten russische Streitkräfte vor allem europäische Städte oder kritische Infrastruktur ins Visier nehmen. Diese Strategie dient dazu, Europa zu verunsichern und Druck aufzubauen. Es zeigt, dass Russland bereit ist, seine nuklearen Fähigkeiten als Drohmittel einzusetzen.
Wladimir Putin will Europa mit seinen nuklearen Drohgebärden verunsichern.
Welche Konsequenzen hat das für Europa?
Ich glaube nicht, dass Europa aktuell Angst vor einem unmittelbaren Atomkrieg haben muss. Russland ist derzeit überzeugt, militärisch in der Ukraine Fortschritte zu erzielen. Solange dies der Fall ist, gibt es keinen Anreiz, Nuklearwaffen einzusetzen. Für Europa heisst das aber, jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Das ist genau das, was Wladimir Putin mit seinen nuklearen Drohgebärden will. Europa verunsichern.
Ihr neues Buch trägt den Titel «Die Rückkehr des Krieges». War der Krieg wirklich jemals verschwunden?
Der Krieg war in den Köpfen der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger Europas lange Zeit verdrängt. Doch wir müssen uns wieder intensiv mit dem Phänomen Krieg und moderner Kriegsführung auseinandersetzen. Nur so können wir eine fundierte und zukunftsfähige Sicherheitspolitik entwickeln, die Europa dringend benötigt – gerade im 21. Jahrhundert.
Das Gespräch führte David Karasek.