Rund acht Zugstunden östlich von Moskau liegt Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan. Eines der Plakate im Stadtzentrum hätte man hier als Schweizer Reporter kaum erwartet: «Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame. Eine Tragikomödie in zwei Akten.» Mit vielen Fotos wirbt das Katschalow-Theater für die Aufführung des Schweizer Bühnenwerkes.
Aber wenn man von der Plakatwand des Theaters hochschaut auf die leuchtende Werbetafel, strahlt dort der orangefarbene Buchstabe «Z»: Symbol für die russische «militärische Spezialoperation» in der Ukraine, aber immer mehr auch für den «Krieg gegen den kollektiven Westen» insgesamt. Beides Wortschöpfungen, die in der russischen Propaganda und Desinformation eine zentrale Rolle spielen.
Plakate mit den «Helden Russlands»
Etwas weiter abwärts der Strasse, an zentraler Lage, stehen weitere Plakatwände, die weniger überraschen, sondern inzwischen Standard sind in russischen Städten. Sie sind der «Spezialoperation» gewidmet. So wird auf Bildern gezeigt, welches die angeblichen Schwachstellen der amerikanischen «Abrams»-Panzer sind. In Grussworten lobt Präsident Wladimir Putin die Soldaten in der Ukraine als «Rückhalt und Schutzpanzer Russlands».
Für den lokalen Anstrich sorgt hier, in der Hauptstadt der Republik Tatarstan, die Geschichte des Einheimischen Rasim Baksiskow. Er hat von Putin persönlich die Auszeichnung als «Held Russlands» erhalten, weil er sich bei einer Panzerschlacht besonders ausgezeichnet haben soll. Über einen QR-Code kann man ein entsprechendes Video auf Youtube schauen.
Ein mehrfaches Jahressalär als Sold
Was hier nicht gezeigt wird: der hohe Blutzoll, den Russland für den Krieg bezahlt. Der britische Admiral Tony Radakin, der Chef des Verteidigungsstabes, sagte kürzlich in einem Interview mit der BBC, die russische Armee habe derzeit durchschnittlich über 1'500 Verletzte oder Tote – pro Tag. Diesbezüglich sei der Oktober für Russland der schlimmste Monat seit Kriegsbeginn gewesen. Auf welchen Angaben diese Zahl beruht, wird im Interview nicht erwähnt. Russland gibt seit längerem keine Verlustzahlen der eigenen Truppen mehr bekannt.
Auf der anderen Seite versucht Russland, die Ränge mit neuen Soldaten zu füllen. Laut eigenen Angaben früher dieses Jahr verpflichtet die Armee jeden Monat rund 30'000 Freiwillige als Vertragssoldaten. Allerdings muss der Kreml dafür immer tiefer in die Taschen greifen. Die einmaligen Antrittszahlungen für Vertragssoldaten betragen inzwischen mancherorts 20'0000 Franken und mehr. Ein Vielfaches von dem, was noch letztes Jahr bezahlt worden war, und für manchen Russen ein mehrfaches Jahressalär.
Die Beschäftigung von Millionen von Männern und Frauen in der Rüstungsindustrie oder an der Front hat langfristig schmerzliche Folgen für den russischen Arbeitsmarkt. Ein Grossteil der Firmen des Landes leidet unter Arbeitskräftemangel.
Kaum Begeisterung, aber auch kaum Protest
Als Alternative zu den Vertragssoldaten sieht Alexander Golts, russischer Militärexperte im Exil, nur zwei Möglichkeiten: eine weitere Mobilmachung oder der Einsatz von Rekruten an der Front. Beides politisch sehr heikle und potenziell gefährliche Themen für den Kreml.
Es fehle Russland an der «strategischen Reserve» im Sinne von bereiten, ausgebildeten Einheiten, so Golts bei einem kürzlichen Auftritt an der Harvard Universität. Allerdings: die Probleme der bevölkerungsmässig über dreimal kleineren Ukraine mit dem Truppen-Nachschub sind derzeit wohl noch grösser.
Begeisterung für die «Militärische Spezialoperation» ist in Russland kaum mehr zu spüren. Proteststimmung allerdings auch nicht. «Ich bin Patriotin Russlands. Aber der Krieg ist die vielen Opfer nicht wert», sagt eine Frau vor den Helden-Plakaten im Zentrum von Kasan. Andere sagen aber auch, man müsse durchhalten bis zum Sieg.