Der ukrainischen Armee ist mit ihrem Vorstoss in die russische Grenzregion Kursk eine Überraschung gelungen. Die russische Armee tut sich schwer damit, den Angriff zu stoppen. Auch, weil es offensichtlich an Soldaten fehlt. Berichten zufolge setzt Russland nun auch Wehrpflichtige in der Region ein – junge Männer im Alter von 18 oder 19 Jahren. Und dies, obwohl Präsident Putin zuvor versichert hatte, dass nur Freiwillige und Vertragssoldaten in Kampfgebiete entsendet würden. SRF-Russlandkorrespondent Calum MacKenzie analysiert diese Entwicklung.
Gilt nicht mehr, dass Russland keine wehrpflichtigen Soldaten in Kriegsgebiete entsendet?
Putin hat mehrmals betont, dass Wehrpflichtige nur auf russischem Boden dienen würden und nicht in der sogenannten Spezialoperation zum Einsatz kämen. Berichte deuten darauf hin, dass sie jetzt doch in Kursk kämpfen. Anfangs wurde dies vom Verteidigungsministerium bestritten, doch inzwischen wird berichtet, Wehrpflichtige erfüllten jetzt ihren Eid und verteidigten Russland.
Wie werden diese Menschen im Krieg eingesetzt?
Die Wehrpflichtigen füllen Lücken an der Grenze, da Berufssoldaten, die sonst die Grenze bewachen würden, in der Ukraine sind. Einige Rekruten haben dem unabhängigen Medium «Wjorstka» erzählt, dass sie plötzlich unter Beschuss kamen, keine Waffen hatten und sich verstecken mussten. Offenbar werden einige geflüchtete Rekruten erneut in den Kampf geschickt, unter Androhung von Anklagen wegen Desertion. Gerüchte besagen, dass ein «Bataillon Kursk» aus Wehrpflichtigen gebildet wird. Jedenfalls scheint Russland nicht gewillt, statt Wehrpflichtigen erfahrene Kämpfer aus dem Donbass nach Kursk zu schicken.
Was sagt das über den Zustand der russischen Armee aus?
Es zeigt, dass Russland eher Land in der Ukraine einnehmen will, als das eigene Territorium effektiv zu verteidigen. Die Rekrutierung verläuft schleppend, Freiwillige sind rar. Man lockt die Männer mit – für Russland – riesigen Geldsummen. Die Armee rekrutiert laut Beobachtern monatlich etwa 30’000 neue Soldaten, ebenso viele werden aber getötet, verwundet oder entlassen. Der Verschleiss an Soldaten im Donbass ist hoch und könnte zu einer neuen Mobilmachung führen, wie das US-Medium Bloomberg diese Woche mehrere anonyme Quellen aus dem russischen Militär zitiert.
Was löst das in der Bevölkerung aus?
Bislang gibt es keine breite Unzufriedenheit, aber die Situation entwickelt sich schnell. Der Kreml hofft, dass die Verteidigung russischen Bodens politischen Spielraum schafft. Denn die Rekruten verteidigen russisches Land und erstürmen nicht Städte in der Ukraine. Es gibt jedoch eine Erwartung, dass die Soldaten heil zurückkehren. Bei früheren Kriegen wie in Tschetschenien oder Afghanistan gab es heftige Reaktionen, als viele Rekruten starben.
Schadet das Präsident Putin?
Putin steckt in einem Dilemma. Er wollte die Bevölkerung vor den Folgen des Krieges abschirmen und vermeiden, dass viele Wehrpflichtige an der Front fallen oder eine neue Mobilmachung nötig wird. Mit der stockenden Rekrutierung bleibt ihm vielleicht keine andere Wahl, als Wehrpflichtige einzusetzen oder eine neue Mobilmachung zu starten. Es scheint plausibel, dass zumindest im Verteidigungsministerium über eine neue Mobilmachung nachgedacht wird. Putin findet sich in einer Art Zwangslage vor, mit der er vor dem ukrainischen Angriff auf Kursk vermutlich nicht gerechnet hatte.