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Ukrainische Kriegsgefangene «Wir waren gefesselt und durften nicht auf die Toilette»

Ukrainische Kriegsgefangene werden in russischer Haft misshandelt, gefoltert, ausgehungert. Manche gehen daran zu Grunde. Diejenigen, die das Glück haben, freigelassen zu werden, berichten von einem System von Gewalt, Unterwerfung und Zynismus.

Sie heisst Mariana Mamonowa, ist 32 Jahre alt, und macht als Erstes das, was junge Mütter gerne tun: Sie zeigt ein Foto ihrer Tochter. Die Zweijährige hat sich das Gesicht mit Lippenstift vollgeschmiert und lacht fröhlich in die Kamera. Ein glückliches Kind, eine stolze Mutter – nichts deutet darauf hin, was diese zierliche junge Frau durchgemacht hat. Als sie zu erzählen beginnt, setzt sie sich auf einer Parkbank gerade hin, schaut in die Ferne. Manchmal atmet sie schwer.

Frau sitzt auf einer grünen Parkbank im Wald.
Legende: Mariana Mamonowa wurde von kremltreuen Kämpfern gefangen gehalten. SRF/Judith Huber

Es war der 6. April 2022, die Sanitätssoldatin Mamonowa war im schwer umkämpften Mariupol im Einsatz. Sie evakuierte und versorgte verletzte Soldaten. Da wurde sie von kremltreuen tschetschenischen Kämpfern gefangengenommen.

«Es war der schlimmste Moment in meinem Leben», sagt Mamonowa. Sie wurde zunächst in ein Lager in der russisch besetzten Region Donezk gebracht und mit anderen Frauen in eine kleine Zelle gesperrt. Sie musste auf dem Betonboden schlafen, erhielt jeden Tag den gleichen Getreidebrei und dünne Suppe zu essen. Zudem sei die Kanalisation verstopft gewesen, die stinkende Brühe habe sich über die Gänge und manchmal in die Zellen ergossen: «Dieser Gestank, dieser Brei, diese Fliegen», sagt Mamonowa, es schüttelt sie bei der Erinnerung.

Russen seien zynisch vorgegangen

Im Lager waren auch Männer eingesperrt: «Sie wurden regelmässig verhört und gefoltert, wir hörten alles, und das war Absicht, damit wir wussten: Wir könnten an ihrer Stelle sein.»

Die Misshandlungen seien so schlimm gewesen, dass manche daran gestorben seien, so Mamonowa. Äusserst grausam und zynisch seien die Russen vorgegangen.

Diese Aussage deckt sich mit Erkenntnissen der UNO, wonach 95 Prozent der ukrainischen Kriegsgefangenen gefoltert werden. Dabei müssten Kriegsgefangene gemäss humanitärem Völkerrecht «unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden». Und: Sanitätssoldaten und -soldatinnen gelten nicht als Kriegsgefangene und müssen unverzüglich freigelassen werden. Darauf hoffte Mamonowa, aber sie wurde bitter enttäuscht.

Rechte von Kriegsgefangenen

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Das humanitäre Völkerrecht wurde nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege erweitert und verfeinert. Im sogenannten Dritten Genfer Abkommen wurden 1949 die Vorschriften zum Schutz von Kriegsgefangenen festgeschrieben. Demnach ist die Inhaftierung von Kriegsgefangenen keine Form der Bestrafung, sondern hat lediglich zum Zweck, ihre weitere Beteiligung am Konflikt zu verhindern. Sie sind unter allen Umständen mit Menschlichkeit zu behandeln und müssen vor jeglicher Gewalt und Einschüchterung geschützt werden.

Sanitätspersonal darf nicht in Kriegsgefangenschaft genommen, sondern lediglich zu Behandlungszwecken zurückgehalten werden, insofern dies notwendig ist. Genau dies treibt die ehemalige Kriegsgefangene Mariana Mamonowa besonders um. Sie betont: Sanitätspersonal kämpfe nicht, werde aber von den Russen inhaftiert und gefoltert wie alle anderen auch. Sie ruft die Schweizer Regierung und die Schweizer Organisationen auf, sich für diese Menschen einzusetzen und auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.

Denn die russische Lagerleitung scherte sich nicht ums Völkerrecht. Und Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK, die die Gefangenen besuchen und Listen erstellen wollten, wurden nicht zu ihnen vorgelassen, wie Mamonowa sagt. Sie konnten lediglich Shampoo und WC-Papier abgeben, was vorher nicht vorhanden war.

Auch die junge Frau wurde wiederholt verhört. Die Fragen, die die russischen Besatzer stellten, zeigen: Sie glaubten selbst an die russischen Propaganda-Lügen – und wollten, dass die Gefangenen diese bestätigten: «Sie waren davon überzeugt, dass wir in Mariupol biologische Waffen entwickelt hätten, dass wir die Verantwortung für diesen Krieg tragen würden, weil wir auf Nationalisten gehört hätten und nicht auf Russland, und dass wir schuld seien am Tod unzähliger Menschen.»

Schwanger in Gefangenschaft

Besonders schlimm war die Drohung, ihr das Kind wegzunehmen, das in ihr heranwuchs – denn Mamonowa war bereits schwanger, als sie gefangen genommen wurde. Auf die Frage, wie sie das ausgehalten habe, schwanger in dieser Hölle, sagt sie: Es sei ihr besser gegangen als ihren Mitgefangenen, denn sie sei nicht allein gewesen, sondern zu zweit: Das ungeborene Kind habe ihr Zuversicht gegeben. Doch je näher der Geburtstermin kam, desto schwieriger wurde es: Sie habe oft geweint.

Wir waren an den Händen gefesselt und durften kein einziges Mal auf die Toilette. Wenn sich jemand einnässte, folterten sie ihn mit Elektroschocks an der nassen Stelle.

Und dann, nach fünfeinhalb Monaten Gefangenschaft, kam der Tag, an dem sie in ein Flugzeug gesetzt wurde, zusammen mit über zweihundert Mitgefangenen. Sie wurden im Unklaren darüber gelassen, dass sie bald frei sein würden – und ein letztes Mal schikaniert: «Wir waren an den Händen gefesselt und durften kein einziges Mal auf die Toilette. Wenn sich jemand einnässte, folterten sie ihn mit Elektroschocks an der nassen Stelle.»

Ganze 20 Stunden lang durften sie nicht auf die Toilette, erhielten nichts zu essen und zu trinken. «Es hiess: Das ist nicht vorgesehen», sagt Mamonowa und sagt diese Formulierung auf Russisch nochmals leise vor sich hin. Diese Worte drehten bis heute in ihrem Kopf.

UNO: Misshandlungen und Folter sind kein Einzelfall

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Misshandlungen und Folter in russischer Kriegsgefangenschaft sind kein Einzelfall, sondern erfolgen systematisch. Das sagt die Leiterin der UNO-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine, Danielle Bell. Die aktuelle Situation sei das Schlimmste, was sie in ihrer 20-jährigen Laufbahn gesehen habe, so Bell. Mehr als 95 Prozent der ukrainischen Kriegsgefangenen würden gefoltert. Das sei zweifellos ein Kriegsverbrechen.

Ausserdem häufen sich die Morde an ukrainischen Soldaten, die sich ergeben haben. Am 11. November dieses Jahres zirkulierten auf sozialen Medien Aufnahmen der Erschiessung von zwei unbewaffneten ukrainischen Kriegsgefangenen in der Region Kursk; Anfang Oktober exekutierten russische Soldaten drei ukrainische Kriegsgefangene in der Region Donezk – eine ukrainische Überwachungsdrohne hat dies festgehalten. Ebenfalls im Oktober sollen sogar 16 ukrainische Soldaten, die sich ergeben wollten, aus nächster Nähe erschossen worden sein. Auch hier gibt es Videomaterial. Die ukrainischen Behörden sprechen von einer sprunghaften Zunahme solcher Kriegsverbrechen in den letzten Monaten und von einer gezielten Strategie der Folter und der Tötung von ukrainischen Gefangenen.

Diese letzte Folter im Flugzeug hätten zwei oder drei Mitgefangene nicht überlebt, so Mamonowa, sie wisse es nicht so genau. Sie selbst und 214 andere hielten durch und konnten am 21. September 2022 freien ukrainischen Boden betreten. Die hochschwangere Mamonowa wurde von ihrem Ehemann in Empfang genommen, und nur vier Tage später kam ihre Tochter zur Welt.

Doch auch wenn sie jetzt in Sicherheit ist und ihr Familienglück geniesst: Die schreckliche Zeit im Lager hat sich bei ihr eingebrannt. Sie sehe auch jetzt oft noch die Gefängnismauern und die Gitter vor sich, sagt die junge Mutter.

Auf Euphorie folgte Depression und Aggression

Der anfänglichen Euphorie über die Freiheit sei eine Depression gefolgt, begleitet von unkontrollierter Aggression und unangemessenem Verhalten. Die Gefangenschaft habe sie verändert, sagt Mamonowa, und das sei normal: Denn im Lager habe sie all ihre Kräfte dazu gebraucht, um bei gesundem Verstand zu bleiben.

Das, was dir passiert ist, wirst du nie vergessen, niemals.

Die junge Frau macht eine Therapie, die ihr hilft, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und arbeitet selbst als Psychotherapeutin. Sie weiss: Eine vollständige Heilung liegt nicht drin, denn: «Das, was dir passiert ist, wirst du nie vergessen, niemals.»

Echo der Zeit, 14.11.2024, 18 Uhr

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