Schebekino ist eigentlich ein verschlafenes russisches Provinzstädtchen mit etwa 40'000 Einwohnerinnen und Einwohnern – rund zehn Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Doch der russische Angriffskrieg gegen den Nachbarn hat in den vergangenen Wochen auch nach Schebekino Chaos und Verwüstung gebracht.
Schebekino ist eine Geisterstadt – es sieht aus wie Tschernobyl.
Auf Videos in den sozialen Medien sieht man brennende Häuser, es sind Raketen- und Artillerieeinschläge zu hören.
«Schebekino ist eine Geisterstadt – es sieht aus wie Tschernobyl», erzählt Andrej, der in der Region wohnt und in Schebekino aufgewachsen ist. Andrej befürchtet Repressionen und will deshalb nicht, dass sein richtiger Name genannt wird.
Die Stadt sei nun allerdings unter der Kontrolle des russischen Militärs, sagt er. Die Soldaten hätten die Ordnung wiederhergestellt: Zuvor hätten in der Stadt zurückgebliebene Bewohner begonnen, verlassene Geschäfte und Häuser zu plündern.
In der Region Belgorod, wo Schebekino liegt, ist es seit Beginn des Grossangriffs auf die Ukraine immer wieder zu Luftangriffen gekommen. Die Region ist ein wichtiger logistischer Drehpunkt für die russische Invasion. Es wurden Treibstofflager und Flugplätze beschossen, mutmasslich von der ukrainischen Armee.
Diese distanziert sich allerdings von den Angriffen auf Russland, weil solche bei den westlichen Unterstützern der Ukraine schlecht ankommen.
Russen liefern sich Gefechte mit Russen
Doch diesen Mai erreichten die Angriffe auf russischem Boden eine neue Dimension: Pro-ukrainische Kämpfer – eigentlich Freiwilligenverbände bestehend aus Russen, die gegen das Putin-Regime sind – überquerten mehrmals die Grenze zu Russland und lieferten sich Gefechte mit den russischen Sicherheitskräften. Sie sollen vorübergehend ganze Dörfer erobert und russische Soldaten gefangen genommen haben. Tausende Zivilisten mussten evakuiert und in die Stadt Belgorod gebracht werden.
Die heftigen Angriffe hätten die Menschen in der Region aufgeschreckt, sagt Andrej: «Die Leute sind beängstigt und besorgt. Auch ich habe einen Koffer gepackt, damit ich schnell fliehen kann.» Allerdings hätten sich auch viele Menschen an die Situation gewöhnt und würden positiv bleiben, so Andrej.
Dies dürfte beim ukrainischen Militär Frust auslösen. Experten glauben, das Ziel der Überfälle sei es nicht nur, russische Truppen zu binden und von der ukrainischen Gegenoffensive abzulenken, sondern auch die russische Bevölkerung dazu zu bringen, den Sinn der sogenannten «Spezialoperation» des Kremls zu hinterfragen.
Es gibt sogar Leute, die jetzt sagen, man müsste die Ukraine komplett vernichten.
Doch die Ereignisse in Schebekino hätten eher das Gegenteil bewirkt, sagt Andrej, ein Gegner des Kriegs. Die Leute kritisierten zwar die Regierung und seien wütend auf die Medien, weil kaum über sie berichtet wird. Doch die Wenigsten hätten ihre Meinung geändert: «Es gibt sogar Leute, die jetzt sagen, man müsste konsequenter gegen die Ukraine vorgehen und sie komplett vernichten.»
Dass es sich bei den Angreifern um russische Staatsbürger handelte, sei in der Bevölkerung nicht angekommen. Befeuert von der russischen Staatspropaganda habe sich ein Hass gegen Ukrainerinnen und Ukrainer breit gemacht, sagt Andrej – gegen die Menschen auf der anderen Seite der Grenze, wo die Leute aus der Region Belgorod früher einkaufen gingen und in die Ferien fuhren.