Kaum eine Behörde der Welt wächst so rasant wie Frontex. Bis 2027 soll sich das Budget der EU-Agentur für Grenz- und Küstenwache vertausendfacht haben, gemessen am Startbudget von 2005.
Der Personalbestand soll von derzeit etwa 2000 auf 10'000 aufgestockt werden. Zu den neuen Mitteln kommen neue Befugnisse. Frontex wird zur mächtigsten Agentur in der Geschichte der EU.
Und sie ist bereits heute die wohl umstrittenste. Gemeinsam mit nationalen Behörden verantwortet Frontex den Schutz der Aussengrenzen der EU und des Schengen-Raums. Gerade im Mittelmeer würden dabei immer wieder Menschenrechte verletzt.
«Die wahre Tragödie ist, dass so viel Leid und Tod auf der Route über das zentrale Mittelmeer vermieden werden könnte», sagt Michelle Bachelet, Hochkommissarin der Uno für Menschenrechte.
Das EU-Parlament hat eine Untersuchung eingeleitet, die Anti-Betrugs-Behörde Olaf ermittelt, mehrere Parteien im EU-Parlament fordern den Rücktritt von Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Doch der denkt nicht daran, seinen Posten zu räumen, wie er im Exklusivinterview mit SRF betont.
Leggeri hatte das Frontex-Chefbüro in der polnischen Hauptstadt Warschau im Januar 2015 bezogen. Die Verantwortung für den Grenzschutz lag damals noch ausschliesslich bei den EU- und Schengen-Staaten, zu denen auch die Schweiz gehört.
Doch dann kam die Flüchtlingskrise. Hunderttausende versuchten 2015 und 2016 nach Europa zu gelangen: Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, Migrantinnen und Migranten aus der ganzen Welt. Mehr als eine Million illegale Einreisen verzeichnete Frontex 2015 allein in den fünf EU- und Schengen-Staaten Italien, Spanien, Griechenland, Zypern und Malta.
Einmal angekommen, reisten die Menschen ungehindert weiter in Richtung Norden. Zumal der Schengen-Raum geschaffen worden war, um das Reisen in Europa zu erleichtern: ohne Warterei, ohne Ausweiskontrollen, ohne Schlagbäume.
Notfallmässig wurden an vielen Schengen-Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen eingeführt. Es drohten das Ende der Reisefreiheit in der EU und Milliardenverluste für den Tourismus, das Transportgewerbe, die ganze Wirtschaft.
Gemeinsame Stärkung der EU-Aussengrenzen
Über den Umgang mit Flucht und Migration entbrannte ein heftiger Streit. Einigen konnten sich die EU-Staaten vor allem auf einen Punkt: Der Schutz der Aussengrenzen soll gemeinsam gestärkt werden.
Damit wurde Frontex zu einer buchstäblich gut sichtbaren Superbehörde: mit bewaffneten und uniformierten Beamtinnen und Beamten, mit Schiffen, Drohnen und Flugzeugen. Heute arbeitet Frontex an den europäischen Land- und Seegrenzen Hand in Hand mit nationalen Behörden, namentlich im Mittelmeerraum und auf dem Balkan.
Und gerät immer mehr in die Kritik. Frontex sorge dafür, dass möglichst wenige Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten den Weg nach Europa fänden. Dabei werde gegen geltendes Recht und fundamentale Menschenrechte verstossen.
Nichtregierungsorganisationen, Medien aber auch staatliche Stellen erheben Vorwürfe. Es geht um unterlassene Hilfeleistung sowie um sogenannte Push-Backs und Pull-Backs.
Frontex bestreitet sämtliche Vorwürfe und betont, man handle rechtens und richtig – so auch Frontex-Chef Fabrice Leggeri im SRF-Interview. Ein Bericht des Frontex-eigenen Verwaltungsrats entlastete die Behörde im März tatsächlich von manchen Vorwürfen, machte aber auch auf Missstände aufmerksam.
Die Untersuchung von Frontex zu den Vorwürfen
Ein Untersuchungsschuss des EU-Parlaments soll der Sache jetzt genauer auf den Grund gehen – ein erster Bericht soll in den kommenden Wochen veröffentlicht werden. Auch Olaf, die Anti-Betrugs-Behörde der EU, ermittelt gegen Frontex. Dabei soll es auch um die Einsätze im Mittelmeer gehen.
Wenig Kritik kommt bislang von den EU-Mitgliedsstaaten. In den Augen vieler erfüllt Frontex bloss die Erwartungen: Die Festung Europa wird unbezwingbarer, es kommen weniger Menschen nach Europa.
Lebensgefährliche und meist aussichtslose Reise
Wurden 2015 mehr als eine Million Einreisen registriert, waren es im vergangenen Jahr weniger als 100'000. Und während Frontex 2016 fast 5100 tote oder vermisste Bootsflüchtlinge zählte, waren es 2020 noch etwa 1400.
Die grössten Gruppen bilden nach Angaben der Uno derzeit Menschen aus Tunesien, der Elfenbeinküste und Bangladesch. Es sind Menschen, die meist aus Not und Perspektivlosigkeit nach Europa kommen. Im Wissen, dass die Reise lebensgefährlich ist und kaum Aussicht auf ein Bleiberecht besteht.
Gleichwohl sind unter den Menschen auch immer noch Asylbewerber. Aus Syrien oder Afghanistan beispielsweise sind in den ersten vier Monaten des Jahres 2021 über 1400 Personen eingereist.
Sie kommen oft über die sogenannte zentrale Mittelmeerroute von Tunesien oder Libyen nach Italien. Aber auch ganz im Westen des Mittelmeers von Marokko nach Spanien und im Osten von der Türkei nach Griechenland versuchen Menschen in den Schengen-Raum einzureisen.
Schlepperbanden verdienen an den Überfahrten in oft seeuntüchtigen Booten gutes Geld, der Menschenhandel ist für internationale Verbrecherorganisationen ein lukratives Geschäft. Und für Frontex und andere Behörden eine Herkulesaufgabe.
Frontex ist zwar mächtig geworden, ausgestattet mit immer mehr Geld, Gerätschaften und Personal, wirkt aber zugleich ohnmächtig angesichts der widersprüchlichen Erwartungen.
Das europäische und das internationale Recht gebieten das Recht auf einen Asylantrag, korrekte Verfahren, den Respekt der Menschenrechte. Nichtregierungsorganisationen, die Medien und Politikerinnen und Politiker pochen auf die Einhaltung dieser Regeln.
Gleichzeitig sind die Staaten froh, wenn möglichst wenige Menschen übers Mittelmeer nach Europa kommen – und sie messen den Erfolg von Frontex auch und vor allem an den Einreisezahlen.