Russlands Krieg gegen die Ukraine geht ungebremst weiter und ebenso zahlreiche andere Konflikte. Nie war die UNO so sehr gefordert wie gerade jetzt. Und kaum je war die internationale Zusammenarbeit so schwierig. Der UNO-Generalsekretär findet deutliche Worte.
SRF News: Sie waren diese Woche am WEF in Davos und sprachen von einem globalen Misstrauen, das seit Generationen nicht mehr so gross war. Worin gründet dieses Misstrauen?
António Guterres: Wir hatten eine Reihe von Krisen. Die Verteilung der Covid-Impfstoffe verlief sehr ungerecht. Das führte zu einem tiefen Unbehagen in den Ländern des Südens. Sie geraten dort zudem wegen des Klimawandels in eine verzweifelte Lage. Und der Ukraine-Konflikt liess die Lebensmittel- und Energiepreise ansteigen.
Die Wahrheit ist, dass unsere internationalen Institutionen schwach sind.
All das führt zu einem tiefen Gefühl der Frustration gegenüber dem Norden. Dazu kommt noch die Spaltung von West und Ost. Das Verhältnis zwischen China und den USA sowie den westlichen Ländern hat sich verschlechtert.
Eigentlich bräuchten wir mehr internationale Zusammenarbeit, mehr Solidarität. Doch der Mangel an Vertrauen lässt dies nicht zu. Zwar sagen alle, einzig mehr multilaterale Zusammenarbeit könne uns retten. Die Wahrheit ist, dass unsere internationalen Institutionen schwach sind. Sie müssten gestärkt werden, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen.
Die westlichen Verteidigungsminister treffen sich in Ramstein. Für Nato-Generalsekretär Stoltenberg besteht eine Pflicht, der Ukraine militärisch beizustehen, nachdem Russland die UNO-Charta verletzt hat. Teilen Sie diese Haltung?
Ich stimme zu, dass die UNO-Charta verletzt wurde und die Invasion Russlands in die Ukraine gegen internationales Recht verstösst. Was die Länder tun oder nicht tun, um die Ukraine zu unterstützen, ist nicht unsere Angelegenheit. Wir müssen die Prinzipien bekräftigen: Diese Invasion ist eine Invasion. Sie verstösst gegen das internationale Recht und gegen die Werte der Charta.
Der UNO-Sicherheitsrat ist im Ukraine-Konflikt gelähmt, sodass der Eindruck besteht, die UNO insgesamt sei handlungsunfähig. Wo besteht noch Handlungsspielraum?
Es gibt leider die Wahrnehmung, dass die UNO dasselbe ist wie der UNO-Sicherheitsrat. Das ist falsch. Die UNO-Generalversammlung etwa hat sehr klar Position zum Krieg in der Ukraine bezogen. Zur UNO gehören zudem auch Entwicklungs- und Hilfsorganisationen. Sie leisten Bemerkenswertes.
Wir retten enorm viele Menschenleben. Wir stärken die Fähigkeit des ukrainischen Volkes, die Kriegsfolgen zu ertragen. Und das Getreideabkommen ist historisch. Erstmals haben zwei kriegführende Länder ein Handelsabkommen abgeschlossen. Wir sprechen jetzt von 19 Millionen Tonnen ukrainischem Getreide, die exportiert werden konnten.
Im Moment sehe ich keine Chance für erfolgversprechende Friedensverhandlungen.
Es ist daher übertrieben, zu sagen, die Vereinten Nationen täten nichts. Wir versuchen zudem, den Austausch von Gefangenen zu beschleunigen. Wir engagieren uns mit unserer Atomenergiebehörde IAEA für die Sicherheit ukrainischer Atomkraftwerke. Das Einzige, was uns leider nicht gelingt, ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frieden diskutiert und hergestellt werden kann.
Die Forderung nach einer Friedensinitiative und nach Verhandlungen wird vielfach erhoben. Sind die Voraussetzungen dafür vorhanden?
Ich glaube, dass derzeit Friedensverhandlungen noch nicht möglich sind. Ich hoffe, dass sich die Dinge im Laufe dieses Jahres ändern. Wir müssen alles dafür tun. Aber lassen Sie mich deutlich sein: Im Moment sehe ich keine Chance für erfolgversprechende Friedensverhandlungen.
Was bräuchte es, damit ein diplomatischer Prozess in Gang kommen könnte?
Alle Beteiligten müssten die Grundsätze des Völkerrechts akzeptieren. Ein Abkommen, welches das Völkerrecht nicht respektiert, führt früher oder später zu neuen Problemen.
Die Schweiz ist nun erstmals und für zwei Jahre Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Was erwarten Sie von der Schweiz in dieser neuen Rolle?
Die Schweiz spielt eine äusserst wichtige Rolle. Die Regeln des Krieges wurden in Genf definiert. Die Genfer Konventionen und das humanitäre Kriegsvölkerrecht werden im Ukraine-Krieg schwerwiegend verletzt. Zudem schuf die Schweiz eine der wichtigsten Institutionen überhaupt: Das Rote Kreuz, IKRK, das eine fantastische Rolle spielt.
Länder haben das Recht, Positionen einzunehmen, die sie in einer konkreten Situation für richtig halten.
Die Schweiz wurde im Kontext der Ukraine mehrfach kritisiert, gerade weil sie neutral ist. Doch diese Neutralität ist entscheidend. Die Schweiz als Land, wo das humanitäre Kriegsvölkerrecht formuliert und das IKRK gegründet wurde, hat daher auch im Sicherheitsrat eine wichtige Aufgabe.
In der Schweiz läuft eine Debatte über die Neutralität. Kann ein Land neutral sein angesichts eines Aggressionskrieges gegen einen souveränen Staat?
Länder haben das Recht, Positionen einzunehmen, die sie in einer konkreten Situation für richtig halten. Eine Institution wie das IKRK muss neutral sein, gemäss internationalem Recht. Die Schweiz hingegen kann selber bestimmen, wie sie sich in der aktuellen Lage verhält.
Für die UNO hat der Kampf gegen die Klimaerwärmung Priorität. Doch der Ukraine-Krieg hat dieses Thema verdrängt. Man kommt in der Klimapolitik kaum noch voran.
Es ist nicht nur der Krieg in der Ukraine! Es gibt auch andere Faktoren. Wir befinden uns in einer extrem schwierigen Situation. Die Treibhausgas-Emissionen müssten deutlich sinken, stattdessen steigen sie weiter. Ohne wirksamen Zusammenarbeit und Massnahmen sind wir verloren. Leider lähmt das globale Misstrauen die Zusammenarbeit. Die grossen Emissionsländer finden keine gemeinsamen Lösungen zur Reduzierung des Schadstoffausstosses.
Die Politiker haben die Klimafrage heruntergestuft, angesichts der Sorgen um den Ukraine-Krieg, um die wirtschaftliche Entwicklung und um die Inflation. Das ist tragisch. Wir kümmern uns zu sehr nur um die Gegenwart. Wegen Meinungsumfragen oder weil Wahlen bevorstehen oder Aktionäre kurzfristig Gewinne verlangen. Wir müssten uns mehr um die Zukunft, um langfristige Visionen kümmern. Dass sie heute fehlen, ist gravierend.
Als UNO-Generalsekretär ist es oft Ihre Aufgabe, Alarm zu schlagen. Aber sie müssen auch Optimismus signalisieren. Was macht Ihnen Hoffnung?
Meine grösste Hoffnung ist die Jugend. Sie ist viel kosmopolitischer als die Jugend zu meiner Zeit. Diese Jugend versteht, dass sie einen enormen Preis zahlen wird wegen der Unfähigkeit der derzeitigen Eliten, auf die grossen globalen Probleme zu reagieren. Ich hoffe, dass diese Jugend mehr Einfluss nimmt.
Meine grösste Hoffnung ist die Jugend.
Dazu kommt: Man muss nicht optimistisch sein, um zu handeln. Jean Monnet hatte gesagt: «Ich bin kein Optimist, ich bin kein Pessimist, ich bin entschlossen.» Ich weiss nicht, ob wir den Krieg gegen den Klimawandel gewinnen. Aber ich weiss, dass unsere Pflicht darin besteht, alles zu tun für die Rettung des Planeten. Wir müssen diesen absurden Krieg zwischen der Menschheit und der Natur beenden.
Das Gespräch führten Fredy Gsteiger und Sebastian Ramspeck.