In Irak heisst es über Muktada Al-Sadr: Er entscheidet am Morgen etwas, und am Abend das Gegenteil.
2021 wollte er die Parlamentswahlen boykottieren. Dann beteiligte er sich und wurde abermals zur stärksten politischen Kraft im Parlament, baute seine Sitzzahl gar noch aus. Er wollte eine Regierung bilden. Als das nicht gelang, zog er alle seine Abgeordneten aus dem Parlament zurück. Als seine Rivalen im schiitischen Lager sich daran machten, selbst eine Regierung zu bilden, liess er seine Anhänger das Regierungsviertel stürmen und das Parlament besetzen. Sie sollten seiner Forderung nach Neuwahlen Nachdruck verleihen.
Als sich die staatlichen Institutionen weigerten, das Parlament aufzulösen, zog sich Sadr urplötzlich aus der Politik und von seinen Anhängern zurück. Verzweifelt demonstrierten diese weiter, denn Sadr hatte ihnen ein besseres Leben, eine neue Verfassung, einen neuen, korruptionsfreien Staat versprochen. Zwei Tage und eine Nacht lang überliess sie Sadr sich selbst und den bewaffneten Gruppierungen, die der schiitischen Grossmacht Iran nahestehen. Mindestens dreissig Sadr-Anhänger wurden getötet, einige Hundert verletzt.
Dann entschied Sadr, es sei vorläufig genug Blut geflossen. Er befahl den Demonstrierenden, welche die Strassenschlachten überlebt hatten, nach Hause zu gehen. Und zu warten, bis das Höchste Gericht seiner Forderung nachkommt, und das Parlament auflöst.
Das tat das Gericht jedoch nicht. Es spielte den Ball wieder zurück ans Parlament: Es müsse sich selbst auflösen. So stehe es in der Verfassung. Nur: seitdem Sadr mit seinem Block das Parlament verlassen hat, sitzen dort nur noch Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die das Parlament sicher nicht auflösen wollen.
Und wenn sie es nicht auflösen, was dann? Noch mehr Blutvergiessen?
Was will Al-Sadr wirklich?
«Nichts ist weniger wert als irakisches Blut», sagte Ehab Al-Wazni 2020 in einem Interview mit SRF. Der Aktivist aus der südirakischen Stadt Kerbala forderte ein Ende der Korruption in Irak, und eine politische Elite, die sich um sein Volk kümmert. Dafür wurde er 2021 ermordet, wie Hunderte von Demonstrantinnen und Demonstranten, die einfach nur einen gerechten und sicheren Staat wollen.
Ein Grund, weshalb damals so viele Demonstrierende umgebracht wurden, war: Al-Sadr liess sie plötzlich im Stich, nachdem er sich zunächst auf ihre Seite gestellt hatte. Damit lieferte er sie den Scharfschützen verschiedener bewaffneter Gruppierungen aus, die im Irak um Einfluss kämpfen.
Aus heutiger Sicht scheint es, dass Sadr in den Massenprotesten damals seine Gelegenheit sah, als Retter des irakischen Volkes in die Geschichte einzugehen. Dafür vergiesst er das Blut seiner Anhänger, ohne ihnen zu sagen, was er wirklich mit dem Irak vorhat. Erst letzte Woche hat er das abermals getan. Und er wird es wohl wieder tun. Mit einem Demonstrations-Aufruf an seine Anhänger, auf Twitter, womit er sie wieder seinen Gegnern ausliefert.
Sadr pokert mit dem Blut seiner Anhänger. Nur, was ist die Alternative? Bewaffnete Gruppierungen im Land morden seit Jahren, ohne dass sie sich je vor Gericht verantworten müssen. Soll das die irakische Bevölkerung einfach hinnehmen? Es ist ihr Recht, für eine bessere, weniger blutige Zukunft zu kämpfen. Man würde ihr dafür eine zuverlässigere Führungsfigur wünschen als Muktada Al-Sadr, der den Irak in den letzten Wochen an den Rand eines Bürgerkrieges geführt hat.