Die junge Kurdin Mahsa Jina Amini tarb am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam. Ihr war vorgeworfen worden, sie sei nicht züchtig genug gekleidet. Zehntausende gingen darauf für mehr Selbstbestimmung und Menschenwürde auf die Strasse – und gegen die iranische Staatsmacht. Diese reagierte mit roher Gewalt. Was bleibt ein Jahr später von den Protesten und der Hoffnung der Opposition?
Ab Januar seien die Proteste unter dem Druck der staatlichen Repression fast verschwunden, sagt Aniseh Bassiri Tabrizi, Iranexpertin beim RUSI, dem Königlichen Britischen Institut für Strategiestudien. Doch die Führung müsse mit neuen Protesten rechnen. Die Frage sei wann, weshalb und mit welchen Folgen. Denn die Wut sei geblieben. Bassiri Tabrizi spricht von einer «tickenden Bombe».
Sanam Vakil leitet die Iranforschung bei «Chatham House» dem renommierten britischen Institut für internationale Studien. Sie warnt: «Die Führungsleute in Teheran waren selbst einst Revolutionäre, sie wissen genau, wie man vorgeht, um eine Zivilgesellschaft zu unterdrücken.»
Die Protestwelle nach Aminis Tod wurde vom iranischen Repressionsapparat mit kompromissloser Gewalt erstickt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden mehr als fünfhundert Menschen erschossen, Dutzende zum Tode verurteilt, Tausende ins Gefängnis gesteckt.
Jede Protestwelle hat ihre eigene Charakteristik.
Aber auch Sanam Vakil erwartet neues Aufbegehren. Darauf deuteten die Erfahrungen der Vergangenheit: Immer wieder gingen Menschen in Iran in den letzten Jahrzehnten gegen die Politik des Regimes auf die Strasse. Trotz aller Gewalt. Der Kampf gegen den Kopftuchzwang und überhaupt die Bevormundung der Frauen hat letztes Jahr im Westen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Solidaritätsbekundungen gebracht.
Auffällig an der jüngsten Welle war tatsächlich, wie viele Frauen mitmachten, unter ihnen auch sehr junge. Doch nicht alle Proteste im Iran seien getrieben von diesem Kampf, relativiert Vakil. «Jede Protestwelle hat ihre eigene Charakteristik», betont auch Bassiri Tabrizi.
Ein zweiter, womöglich noch stärkerer Mobilisator war nach Aminis Tod die Missachtung der Minderheitsrechte. Im kurdischen Norden, der Heimat Aminis. Und in der Provinz Sistan-Belutschistan an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan waren die Strassenproteste am grössten, die Repression am blutigsten.
Beide Gebiete sind sunnitisch geprägt und unterscheiden sich auch darin vom schiitischen und persischen «Kernland». Für die Führung im «Vielvölkerstaat» Iran seien diese Anfechtungen von der Peripherie besonders bedrohlich, sagt Sanam Vakil, die Iranexpertin von «Chatham House».
Aber auch wirtschaftliche Not, Arbeitslosigkeit, Dürre und Wassermangel trieben Iranerinnen und Iraner in den letzten Jahren regelmässig auf die Strassen, aller Gefahren zum Trotz. Die vorausgegangene Protestwelle, 2019, hatte sich an einer Benzinpreiserhöhung entzündet. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen wurden damals sogar dreimal so viele Menschen getötet wie letztes Jahr – unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit.
Khamenei: «Feinde der Revolution chancenlos»
Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei hat in der iranischen Politik das letzte Wort. Er macht für Unruhen in Iran jeweils den Westen verantwortlich. Dieser wiegle verunsicherte Teile der Bevölkerung auf, mit dem Ziel, die «Islamische Republik» zu zerstören, so der Staatschef.
Khamenei warnt vor separatistischen Verschwörungen und zeichnet das Drohszenario von Bürgerkrieg und Staatszerfall. Seine Herrschaft stellt er als alternativlos dar. Die Errungenschaften von 1979 seien gottgewollt, die Feinde der «Islamischen Revolution» chancenlos. Das Regime unter der Führung des schiitischen Geistlichen wirkt dennoch aus der Zeit gefallen – selbst im regionalen Vergleich.
Khamenei ist inzwischen 84 Jahre alt. «Tod dem Diktator», diese Kampfansage war in den letzten Jahren in Iran häufiger zu hören. Es geht dabei nicht mehr um Reformen, sondern um das Ende des Systems, das Khamenei repräsentiert und sich mithilfe der Revolutionsgarden an der Macht hält.
Das System der «Islamischen Republik» ist in einer Legitimitätskrise, das ist kaum zu bestreiten. Und dies besonders in den westlich orientierten städtischen Zentren.
Seit Jahren lassen Frauen das Kopftuch absichtsvoll nach hinten rutschen, zeigen Haarsträhnen. Aus Teheran wird berichtet, dass sich neuerdings immer mehr Frauen ganz ohne Kopftuch in die Öffentlichkeit begeben und damit die Staatsmacht direkt herausfordern. Die Rede ist von einem neuen Selbstbewusstsein, welches die Protestwelle vom letzten Jahr gebracht habe.
Gleichzeitig wird berichtet, dass die Moralpolizei angewiesen ist, wieder schärfer gegen Verstösse durchzugreifen. Im Parlament, das wie alle Institutionen inzwischen von den Hardlinern kontrolliert wird, ist ein Gesetzesentwurf hängig, der noch drakonischere Strafen bei Missachtung der Kleidungsvorschriften vorsieht.
Die Proteste sind vielfältig und wiederkehrend, aber ohne gemeinsame Richtung.
Was die Opposition schwächt, sei nicht nur die äusserst brutale Repression, es sei auch ihre eigene Uneinigkeit, gibt Aniseh Bassiri Tabrizi vom Institut für Strategiestudien in London zu bedenken. «Die Proteste sind vielfältig und wiederkehrend, aber ohne gemeinsame Richtung.» Es fehle der Opposition auch jede organisatorische Struktur, stellt die Iranforscherin beim RUSI fest.
Es sei wohl noch ein weiter Weg. «Immerhin – jede neue Protestwelle ist verbunden mit der Chance für die Regimegegner, auf dem Weg ein Stück voranzukommen.»
Die Iranerinnen und Iraner müssten sich erst noch klar werden darüber, wie ein anderes Iran aussehen könnte, sagt auch Sanam Vakil, Chefin «Middle East» bei «Chatham House». Das sei eine Lehre aus den Entwicklungen seit dem Tod von Mahsa Jina Amini. Von diesem «neuen Iran» sei noch keine gemeinsame Vorstellung vorhanden. Und aus dem Ausland sei dafür keine schnelle Hilfe zu erwarten. Auch das habe sich gezeigt.
Zerstrittene Auslandsopposition
Acht prominente Figuren der iranischen Auslandsopposition, unter ihnen Reza Pahlavi, der Sohn des letzten Schahs, hatten Anfang dieses Jahres zwar ein Bündnis verkündet. In westlichen Hauptstädten zog dies einiges Interesse auf sich. Die Zeit der Grabenkämpfe sei vorbei, beteuerten die acht.
Doch es zeigte sich schnell, die Gruppe sprach vor allem für sich selbst und hatte wenig Bezug zu den Entwicklungen innerhalb Irans. Der Konsens beschränkte sich darauf, dass die «Islamische Republik» verschwinden müsse. Das Bündnis zerbrach, die alten Streitereien kamen zurück.
Kritik an europäischen Regierungen
Beide Iranexpertinnen in London kritisieren in diesem Zusammenhang auch die europäischen Regierungen. Unter dem Druck der Schlagzeilen über die Massenproteste hätten manche Regierungen auf das wenig repräsentative Achterbündnis der Exilopposition gesetzt.
Nur um sogleich die Kehrtwende zu vollziehen, als die Proteste abebbten. Sie seien im Verhältnis mit der «Islamischen Republik» wieder zur Tagesordnung übergegangen, als wäre Iran ein respektabler Rechtsstaat, sagt Sanam Vakil. «Europa macht Iranpolitik entsprechend der Tagesstimmung der eigenen Öffentlichkeit.»
Gezeigt habe sich dabei, wie wenig konstant das Engagement des Westens für Demokratie und Menschenrechte in Iran sei. Dabei könne man sehr wohl beides tun: diplomatische Beziehungen zu Iran unterhalten und die Führung der «Islamischen Republik» gleichzeitig kritisieren.