Um die Proteste in Iran zu verstehen, lohnt es sich, über das persisch geprägte Kernland hinauszuschauen. Davon ist Hessam Habibi überzeugt. Der iranische Politwissenschaftler verfolgt die Entwicklungen in den Minderheitsgebieten des «Vielvölkerstaats» von Wien aus.
In der Provinz Sistan-Belutschistan ist die Repression besonders brutal. Gleichzeitig predigt dort ein Geistlicher mit grosser Gefolgschaft und Ausstrahlung über die Provinzgrenzen hinaus.
Einstehen für ganz Iran
Er heisst Maulana («unser Meister») Abdul Hamid und ist zu einem Fürsprecher der Protestbewegung geworden. Der sunnitische Geistliche habe religiöse Autorität, sei verwurzelt in der lokalen Stammeswelt und versiert in digitaler Kommunikation, sagt der iranische Politwissenschaftler.
Der Geistliche habe die Provinzhauptstadt Zahedan zu einem Zentrum sunnitischer Gelehrsamkeit gemacht. Dies als Gegengewicht zu Qom, das als Zentrum des Schiitentums gilt, der iranischen Mehrheitskonfession.
Abdul Hamid ruft nicht direkt zum Sturz des iranischen Regimes auf, doch «er erweitert Woche für Woche seine Kritik». Es gehe ihm dabei nicht mehr nur um die Diskriminierung der Minderheiten, neuerdings spreche er von allen Iranerinnen und Iraner, sagt Hessam Habibi.
Es geht um Diskriminierung
Wie aber passt das zusammen – der konservative Geistliche aus der Stammeswelt Belutschistans und der liberale Protest in den städtischen Zentren? «Es sind verschiedene Welten», räumt der iranische Forscher in Wien ein, «aber wenn man genauer hinschaut, geht es um das gleiche Problem.» Das Problem der systematischen Diskriminierung in Iran. So wie Frauen für ihre Rechte kämpfen, so tun es die ethnischen und konfessionellen Minderheiten.
Es fehlt der Protestbewegung an Führungsfiguren. Könnte ausgerechnet der sunnitische Geistliche aus der Peripherie eine werden? Videos, wie sie in den grossen Städten Irans kursieren und Junge zeigen, die religiösen Würdenträgern die Turbane vom Kopf reissen – in der Stammeswelt Belutschistan wären derlei Respektlosigkeiten undenkbar, gibt der Politwissenschaftler in Wien zu bedenken.
Er glaubt dennoch, dass Abdul-Hamids Bedeutung landesweit noch wachsen könnte. Um das Verbindende zu unterstreichen, macht der konservative Geistliche inzwischen auch den Forderungen der Frauen zum Thema.
Grenzen überwinden
Die Führung Irans versucht, kritische Stimmen von der Peripherie als Bedrohung für den Zusammenhalt des Landes darzustellen und so zu diskreditieren. Belutschistan, aber auch die kurdischen Gebiete, werden regelmässig als «Achillesferse» Irans bezeichnet, wo «Feinde» aus dem Ausland Einfluss nähmen. Auch Abdul-Hamid wird in Staatsmedien vorgeworfen, er werde von der sunnitischen Regionalmacht Saudi-Arabien unterstützt.
Doch verfängt diese Rhetorik noch? Es gibt tatsächlich bewaffnete Gruppen in Kurdistan und Belutschistan. Es gibt auch einen umfangreichen Ölschmuggel und Stammesbeziehungen über die Grenze. Das sei aber nur ein kleiner Teil einer komplexen Realität, sagt Hessam Habibi.
Auch im persischen Kern des Landes werde die Komplexität zunehmend wahrgenommen. Man sei besser informiert, höre mehr von der Diskriminierung der Minderheiten und lerne sich so besser kennen, glaubt der iranische Politwissenschaftler. Es wäre eine schlechte Nachricht für das Regime in seinem Versuch, die Opposition zu spalten und so mundtot zu machen.