Es gab Zeiten, da versuchten türkische Präsidenten, die besondere kulturelle Beziehung zu den Uiguren als Eintrittstür für eine Freundschaft mit China zu benutzen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Altay Atli, der die türkisch-chinesischen Beziehungen an der Bosporus-Universität in Istanbul untersucht.
Doch vergebens. Die Führung in Peking wies solche Charmeoffensiven jeweils schroff zurück. Als die Vorwürfe immer lauter wurden, dass die Uiguren von China unterdrückt werden, zog Präsident Erdogan andere Saiten auf, nun sprach er von Völkermord, der an diesem Turkvolk begangen werde.
Routine- statt Generalkritik
Aber auch das ist schon Jahre her. Seit die Türkei in der Wirtschaftskrise steckt, äussert Ankara nur noch ab und zu Routinekritik, sie ist noch verhaltener als die Kritik vieler westlicher Länder, ungeachtet der besonderen Beziehungen zum uigurischen Brudervolk.
Unbestritten hat die Türkei grosses Interesse an China, der zweitgrössten Wirtschaftsmacht der Welt. Gerade Erdogan, der regelmässig das Zerwürfnis mit Europa und den USA zelebriert, und das auch mal mit scharfer antiwestlicher Rhetorik unterlegt.
Doch Atli relativiert. Rund siebzig Prozent der Direktinvestitionen kommen aus den Ländern Europas in die Türkei. Nicht einmal ein Prozent aus China. Das weiss auch Erdogan.
Erdogan inszeniert sich gerne als der Verteidiger der unterdrückten Muslime dieser Welt.
Es gehe für die Türkei nicht darum, mit Europa zu brechen, wie das manchmal behauptet werde, sagt Atli. «Es geht darum, ein neues Gleichgewicht anzustreben, sich auf die neuen Realitäten des 21. Jahrhunderts auszurichten, eine multipolare Welt», so der Istanbuler Wirtschaftsexperte.
Neue Verheissungen
Gerade für die Türkei, das Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, sei es nur logisch, die neuen Verheissungen auch im Osten zu sehen. Doch was kann sich die Türkei von China erhoffen, ausser einer Flut von chinesischen Importprodukten und immer gewaltigerem Defizit in der Handelsbilanz?
Zum einen Finanzhilfe. Tatsächlich sprang Peking Erdogan in seiner Krise mit Milliardenkrediten bei. Die Türkei ihrerseits versuchte, sich für chinesische Touristen attraktiv zu machen. Das war vor Corona.
Und die Uiguren?
Mehrere zehntausend uigurische Flüchtlinge leben in der Türkei, manche schon seit Jahrzehnten. Sehr zum Ärger Chinas, das auch kritisiert, dass im Syrienkrieg uigurische Dschihadisten in Gebieten kämpften, in denen die Türkei Einfluss nahm.
Religiöse und nationalistische Kreise in der Türkei machen sich stark für die unterdrückten Brüder, also jene Kreise, in denen Erdogan seine Wählerbasis hat. Dem müsse der Präsident Rechnung tragen, jedenfalls in seiner Rhetorik. «Er, der sich gern als der Verteidiger der unterdrückten Muslime dieser Welt inszeniert», wie Atli es ausdrückt.
Gleichzeitig setze die Türkei enorme Hoffnungen in die chinesische Wirtschaftskraft. Erdogan sei sehr daran gelegen, diese nicht zu gefährden. Pragmatismus nennt Atli die neue türkische Zurückhaltung.
Auslieferung von Uiguren?
Auffällig war, wie unmittelbar vor dem Eintreffen der ersten Impfdosen ein umstrittenes Abkommen mit China einen weiteren Schritt Richtung Umsetzung nahm, eines, das die Auslieferung von Straftätern erleichtern soll.
Manche in der Türkei sahen darin eine Bedingung, dafür dass die Türkei den Impfstoff erhielt. Mit anderen Worten, chinesische Erpressung. Die Regierung in Ankara bestreitet jeden Zusammenhang.