Eine Woche ist es her, seit ein gewaltiger Sturm über die ostlibysche Küste fegte. Er brachte Tod und Zerstörung. Die Dämme oberhalb der Stadt Derna brachen. Eine verheerende Flut fegte durch die Stadt und zerstörte alles, was sich ihr in den Weg stellte.
Wie viele Menschen in dieser Katastrophe umgekommen sind, ist noch unklar. Rund 4000 Opfer wurden bisher beerdigt. Tausende werden noch vermisst. Und die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, schwindet immer mehr.
Derna ist nicht mehr.
Aziza ist Primarlehrerin. Sie hat einen grossen Teil ihrer Familie in dieser Katastrophe verloren. Sie sagt: «Derna ist nicht mehr. Derna gibt es nicht mehr.» Viele Bewohnerinnen und Bewohner und Familien seien verschwunden und es gebe keine Spur von ihnen. Man wisse nicht, ob sie noch leben, sagt sie in einer Sprachnachricht. Sie erzählt, wie das Meer noch immer Leichen anspült.
Dass noch Lebende in den Trümmern der Stadt gefunden werden, ist zunehmend unwahrscheinlich. Doch was man tun, wenn die Hoffnung nicht erlöscht ist? Wie soll man umgehen mit Ungewissheit, Trauer, Schock und immer auch wieder Wut über jene, die sich nicht um die Infrastruktur und den Unterhalt der Dämme gekümmert haben.
In die eigene Tasche
Wütend ist man auch über jene Eliten, die mutmasslich viel Geld in die eigenen Taschen steckten, statt sie für die Allgemeinheit zu verwenden. Zu diesem Vorwurf hat der libysche Generalstaatsanwalt eine Untersuchung angekündigt.
Angesichts des Ausmasses dieser Katastrophe bräuchten die Menschen psychologische Unterstützung.
«Wir stehen noch unter Schock», sagt Aziza. «Aber wir vertrauen keiner internen Untersuchung. Wir wollen eine internationale Untersuchung, die auch die Überlebenden anhört.»
Das Misstrauen ist gross und die Befürchtung durchaus berechtigt, dass am Ende die Falschen zur Rechenschaft gezogen werden – sogenannte Bauernopfer. Das Desaster habe die libysche Bevölkerung zusammengeschweisst, sagt Aziza, aber kaum die politischen Eliten.
Psychologische Unterstützung nötig
Die Sturmflut hat in Derna ein immenses Trauma hinterlassen. Einst lobte man die Stadt für ihre Schönheit. Heute ist sie ein furchtbares Massengrab.
«Angesichts des Ausmasses dieser Katastrophe, auch ihrer Brutalität, bräuchten die Menschen psychologische Unterstützung», sagt Pierre Trouche von der NGO Handicap International, die jahrelang in Libyen tätig war.
Auch er meldet sich per Sprachnachricht, die Kommunikation per Telefon ist derzeit schwierig. Psychologische Unterstützung sei nötig, so schnell wie möglich. Doch was einfach klingen mag, ist eine grosse Herausforderung.
Minen gefährden Rettungsarbeiten
Denn die Sturmflut hat Tausende, Zehntausende zurückgelassen, fassungslos, schockiert. Der Bedarf ist enorm. Diesen Bedarf zu decken, sagt Pierre Trouche, dürfte schwierig sein. Aber psychologische Hilfe müsse zur Priorität werden. Spätestens dann, wenn Rettungs- und Bergungsarbeiten beendet seien.
Diese Arbeiten seien nicht nur psychisch und physisch äusserst belastend, sondern auch noch erschwert: Die Region ist – nach all den Bürgerkriegen und Konflikten – stark vermint, sagt Pierre Trouche.
«Mit der Sturmflut könnten deshalb auch Minen und andere Überbleibsel der Kriege weggeschwemmt worden sein und nun eine potenzielle Gefahr darstellen – auch für die Rettungs- und Bergungskräfte.»