Die Abschiedsrede des scheidenden Präsidenten Biden machte es überdeutlich: Dieser Machtwechsel in Washington ist nicht einfach ein Übergang von einem Präsidenten zum nächsten. Mit Biden geht eine Zeit zu Ende, es ist die Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges. «Trump hat recht: Der Amerikanische Frieden ist vorbei», schrieb Charles Kupchan dazu kürzlich im «The Atlantic». «Die Frage ist: Wird er sich bemühen, etwas Neues zu gestalten?»
Politische Mitte wird ausgehöhlt
Der Professor öffnet die Tür zu seinem typischen Washingtoner Vorstadthäuschen, und schiebt erst einmal die Schlitten seiner Kinder zur Seite. Es ist bitterkalt in Washington dieser Tage. Dann legt er los: «Wir erleben zwei tektonische Verschiebungen: erstens den Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter. Das bedeutet für viele Arbeitende ohne Hochschulbildung in unseren industrialisierten Demokratien einen massiven Einkommensschwund.»
Viele Arbeitnehmende hätten den wirtschaftlichen Optimismus verloren, die politische Mitte werde ausgehöhlt. «Die andere grosse Veränderung besteht darin, dass sich die globale Machtverteilung verändert.» Eine vom Westen ideologisch und materiell dominierte Welt spalte sich auf. Die Macht verschiebe sich vom Westen nach Osten, vom Norden nach Süden.
Ideologischer Biden, pragmatischer Trump
Dadurch, so Kupchan, entstehe eine geopolitische Rivalität, in der sich der scheidende Präsident Biden viel zu ideologisch bewegt habe: «Biden leistete grossartige Arbeit bei der Wiederherstellung unserer Beziehungen zu unseren Verbündeten. Aber er vernachlässigte die Arbeit dort, wo sie am nötigsten war: der Diplomatie mit Gegnern.» Es habe keinen Dialog zwischen den USA und Russland gegeben, obwohl seit drei Jahren der gefährlichste und schrecklichste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg tobe.
Ein Dialog zwischen Biden und Xi habe so gut wie nicht stattgefunden, so Kupchan. «Ich glaube, sie haben sich im Laufe von vier Jahren dreimal getroffen. Wenn also ein neuer Präsident kommt, der sagt: ‹Ich werde Putin anrufen und versuchen, den Krieg in der Ukraine zu beenden›, und welcher Xi Jinping zur Amtseinführung nach Washington einlädt, dann sind das für mich gute Nachrichten. Wir müssen mit unseren Gegnern sprechen.»
Gleichzeitig sieht Kupchan aber auch ein Risiko: «Trumps Neo-Isolationalismus kann auch dazu führen, dass die USA plötzlich zu wenig tun, statt wie bisher eher zu viel. Ja, wir wollen weniger Kriege, aber die USA müssen sich weiterhin intensiv engagieren.»
Die ungestellte Frage
Doch um die politische Krankheit zu heilen, unter der die industrialisierte Welt insgesamt leide, sei etwas ganz anderes viel wichtiger, so Kupchan: «Irgendwann muss ein amerikanischer Präsident hinstehen und sagen: ‹Wir müssen herausfinden, was die Arbeiterschaft im Jahr 2035 tun wird, um einen existenzsichernden Lohn zu verdienen.›»
Das sei die Diskussion, welche man führen müsse. «Denn die Trump‘schen Versprechen, die USA wieder zu einer Produktionsmacht zu machen, sind Wunschvorstellungen», so Kupchan.