Letztlich und im Geheimen ist auch Joe Biden zur Erkenntnis gekommen, dass er diesmal nicht das Comeback-Kid sein und den Wahlkampf nicht mehr herumreissen kann. Zwar waren viele überzeugt, dass Bidens Rückzug nur noch eine Frage der Zeit sei. Und doch blieb es zu einem gewissen Grad unberechenbar, weil der Entscheid bei Biden lag. Nach aussen bekräftigten der Präsident und sein Wahlkampfteam bis kurz vorher, dass Biden im Rennen bleibe.
Doch hinter den Kulissen war der Druck gross. Gewichtige Persönlichkeiten wie der Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, Chef der Demokraten im Repräsentantenhaus, Hakeem Jeffries, und die ehemalige Speakerin und Biden-Verbündete Nancy Pelosi überbrachten dem Präsidenten die Nachricht, dass viele nicht mehr glaubten, dass er gegen Trump gewinnen könne – und dass er andere Demokraten, die für Sitze im Kongress kandidierten, mit hinunter reissen könnte.
Eine Trump-Präsidentschaft mit einer republikanischen Mehrheit im Kongress, dazu eine rechtskonservative Mehrheit im höchsten Gericht – ein Horrorszenario der Demokraten. Wäre Joe Biden der Wegbereiter dafür geworden, wäre das ein Vermächtnis, das er nicht verdient hätte.
Noch nie dagewesene Situation
Wie geht es nun weiter? Die Demokraten werden ihren Parteitag in Chicago vom 19. bis 22. August abhalten. Joe Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris seine Unterstützung zugesagt. Es gibt einige komplizierte Fragen, doch im Prinzip gibt es zwei Optionen: Entweder, die Partei einigt sich, Kamala Harris zu unterstützen – sie könnte schon Anfang August virtuell nominiert werden.
Oder es gibt eine Mini-Vorwahl mit mehreren Kandierenden und einen offenen Parteitag in Chicago, bei dem die Kandidatin oder der Kandidat gewählt wird. Die erste Version ist direkter, die zweite Version hat das Potenzial für Streit und Chaos, doch sie wäre auf eine Art demokratischer. Allerdings: Die Zeit ist knapp, die Situation noch nie dagewesen.
Und wenn sich die Partei nicht hinter Harris stellt? Zuletzt wurden Namen wie Gretchen Whitmer (Gouverneurin von Michigan) und Gavin Newsom (Gouverneur von Kalifornien) herumgereicht. Doch auch der Gouverneur von Kentucky Andy Beshear, der als Demokrat in einem konservativen Bundesstaat wiedergewählt wurde, oder Josh Shapiro, der pragmatische Gouverneur im heiss umkämpften Bundesstaat Pennsylvania, sind interessante Kandidaten.
Diese Namen stehen auch weit oben auf der Liste für den Posten als Vizepräsident. Die Gefahr für die Demokraten besteht darin, dass ein Streit um die richtige Person letztlich allen schadet. Kamala Harris zu übergehen, wäre riskant, denn die schwarze Wählerschaft ist entscheidend für die Demokraten.
Viele sind offen für unbelasteten Kandidaten
Die Ereignisse werden sich nun überschlagen. Die Republikaner, die sich eben noch in Siegesgewissheit sonnten, müssen sich auf eine neue, unberechenbare Situation einstellen. Lange war Kamala Harris unbeliebt, und jeder andere mögliche Kandidat ist nicht so bekannt wie Donald Trump. Dies spricht für Trump. Doch es gibt auch die Chance, dass sich eine Dynamik für den oder die Nominierte der Demokraten entwickelt, die Trump gefährlich wird.
Denn eins ist klar: So wenig viele Amerikanerinnen und Amerikaner Joe Biden die Präsidentschaft zutrauten, so unbeliebt ist auch Donald Trump bei grossen Teilen der Wählerschaft. Viele wollten weder Trump noch Biden wählen. Und es gibt eine grosse Offenheit für jemanden, der unbelastet und jünger ist. Spendenbereite Geldgeber melden sich bereits bei den Demokraten. Ein neues, spannendes Kapitel in dieser einzigartigen Wahl hat begonnen.