In den USA gehen derzeit die Wogen hoch. Grund ist die Abschiebung von hunderten mutmasslich kriminellen Gangmitgliedern aus den USA nach El Salvador. Ein Richter hatte dies untersagt und argumentiert, es brauche vorher eine genauere Prüfung der Fälle. Die US-Regierung scheint sich darüber hinweggesetzt zu haben. Was das bedeutet, weiss Kirk Junker, Professor für US-Recht in Köln.
SRF News: Trump berief sich auf ein Gesetz aus dem Jahr 1798, das es erlaubt, Bürger feindlicher Staaten abzuschieben. Wie ist das aus juristischer Sicht zu beurteilen?
Kirk Junker: Viele sprechen nun von einer Verfassungskrise. Ich würde aber eher von einem Verfassungstest sprechen. Es scheint, als habe die Trump-Regierung absichtlich Gerichtsbeschlüsse missachtet. Aber Trump und seine Regierung bestreiten das und machen geltend, sie hätten zu spät von dem Richterentscheid erfahren.
Wir hätten dann eine Verfassungskrise, wenn Trump sagen würde, dass Gerichte keine Autorität über den US-Präsidenten hätten.
Deshalb ist es zu früh, von einer Verfassungskrise zu sprechen. Eine solche hätten wir, wenn Trump sagen würde, dass Gerichte keine Autorität über den US-Präsidenten hätten. Der Richter hat auch nicht gesagt, man dürfe das Gesetz von 1798 in den umstrittenen Fällen nicht heranziehen – er hat nur gesagt, er brauche mehr Zeit und Auskünfte der Regierung, um den Fall zu beurteilen.
Die Republikaner kritisieren, dass ein Bundesrichter in einem beliebigen Bezirk in den USA die ganze Migrationspolitik der Regierung blockieren kann. Was ist von dieser Kritik zu halten?
Sehr wenig. Es war schon immer so, dass ein Bundesrichter für das ganze Land spricht – das ist nicht zu verwechseln mit der Justiz in den 50 Bundesstaaten. Die Entscheide dieser Landesrichter haben nur für ihren eigenen Bundesstaat Gültigkeit.
Der Vorwurf der Republikaner wurde schon früher erhoben, auch von Demokraten. Müsste man das Justizsystem also anpassen?
Interessant ist: Nur wenn die Einsprecher das Urteil falsch finden, finden sie das Justizsystem schlecht. Aber diese politische Meinung ist keine juristisch begründete Interpretation der US-Verfassung.
Manche Republikaner fordern nun die Absetzung des betroffenen Richters. Welches Rechtsverständnis kommt da zutage?
Während der ersten Trump-Amtszeit war immer wieder ein Amtsenthebungsverfahren Thema der Diskussionen. Ein solches Impeachment-Verfahren kann nicht nur für Präsidenten angestossen werden, sondern für alle Bundesangestellten, also auch für Richter.
Es hat auch schon Impeachment-Verfahren gegen Richter gegeben.
Und in der Tat sind in der Vergangenheit auch schon Richter ihres Amtes enthoben worden. Das könnte also auch im vorliegenden Fall passieren. Allerdings: Der Vorsitzende Richter des Supreme-Courts, John Roberts, machte Trump umgehend darauf aufmerksam, dass ein Richter-Impeachment keine angemessene Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten über eine gerichtliche Entscheidung sei.
Wir haben von einer möglichen Verfassungskrise gesprochen. Was genau ist das?
Eine Verfassungskrise tritt dann ein, wenn die Verfassung nicht mehr funktioniert. Bislang aber hat der klare und explizite Widerstand der Richter gegen den illegalen politischen Willen von Präsident Trump die Funktionsfähigkeit der US-Verfassung gewährleistet. Das zeigt: Rechtssysteme funktionieren dann, wenn allgemeiner Respekt für Rechtsstaatlichkeit herrscht. Rechtssysteme brauchen auch die Unterstützung der Bevölkerung. Derzeit funktioniert das Verfassungssystem in den USA noch, gerade weil sich die Justiz zuweilen gegen Entscheide der Regierung Trump stellt, wenn das juristisch geboten ist.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.