Chile mit rund 19 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern stimmt am Sonntag über einen Verfassungsentwurf ab, den zum Grossteil linke progressive Kräfte, Parteiunabhängige und Aktivistinnen innert Jahresfrist ausgearbeitet haben. Die Hälfte des Konvents bestand aus Frauen und 17 Sitze hatten Indigene.
Eine neue Verfassung war eine Hauptforderung der Demonstrationen von 2019 gegen die Regierung, die zahlreiche Tote forderten. Vor zwei Jahren stimmten fast 80 Prozent für das Projekt.
Der Entwurf in der vorliegenden Form würde das Land stark verändern: So garantiert die Magna Charta unter anderem das Recht auf Wohnraum, Gesundheit und Bildung. Künftig soll zudem die Hälfte der Staatsorgane mit Frauen besetzt werden. Erstmals würde auch das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Gemeinschaften anerkannt.
Entwurf laut Umfragen auf der Kippe
Über eine halbe Million Menschen kamen am vergangenen Donnerstag zum Abschluss der Pro-Kampagne «Apruebo» im Zentrum der Hauptstadt Santiago zu einem riesigen Strassenfest zusammen. 400 Personen waren es zum Vergleich beim Kampagnenschluss der Gegnerschaft auf dem Hügel San Cristobal.
Eine sehr hoffnungsvolle Stimmung habe sie erlebt, berichtet die Journalistin Sophia Boddenberg aus Santiago. Die Befürworterinnen und Befürworter seien sich bewusst, dass eine neue Verfassung die Probleme nicht sofort lösen werde. Entsprechend habe sie damals den Eindruck bekommen, dass die Stimmung auf der Strasse den jüngsten Umfrageergebnissen stark widerspreche, welche eher von einer Ablehnung ausgehen.
Befürworterinnen und Befürworter sind sich bewusst, dass eine neue Verfassung die Probleme nicht sofort lösen wird.
Falschinformation sorgt für Angst und Verunsicherung
Doch die rechte Opposition fährt eine massive Gegenkampagne. Viele Menschen in der konservativen Gesellschaft halten den Verfassungstext für eine linke Utopie, welche mit staatlichen Eingriffen den wirtschaftlichen Erfolg Chiles gefährden könnte. Die Befürworter sprechen von der fortschrittlichsten Verfassung der Welt.
Auf dem Land ist laut Boddenberg vor allem die Plurinationalität mit der Anerkennung der Indigenen mit Landrecht und kulturellen Rechten umstritten. Dabei sorgten auch viele Falschnachrichten und ungenügende Information für Verunsicherung: «Sehr viele Menschen haben Angst, dass Ländereien enteignet würden und Indigene mehr Rechte als Chilenen hätten.»
Sehr viele Menschen haben Angst, dass Ländereien enteignet würden und Indigene mehr Rechte als Chilenen hätten.
Auch beim anderen grossen Thema, der geplanten Stärkung des öffentlichen Sozial- und Gesundheitssystems im Gegensatz zur aktuell stark privatisierten Daseinsfürsorge gebe es viel Desinformation und Missverständnisse, so Boddenberg. So kursiere etwa, dass alle privaten Kliniken verboten würden. Entsprechend hätten viele Angst, sie müssten sich künftig in den unterfinanzierten öffentlichen Spitälern behandeln lassen.
Ein Nein wäre nicht das letzte Wort
Die Regierung von Präsident Gabriel Boric, der erst seit einem halben Jahr im Amt ist, hängt von der neuen Verfassung ab. Sein Programm lässt sich nur so umsetzen. Für den Fall einer Ablehnung will er eine neue verfassungsgebende Versammlung einberufen.
Der politische Prozess ist offen, und es wird auf jeden Fall Veränderungen geben.
Ist Boric erfolgreich, will er mit Reformen beginnen. Dazu hat er mit anderen Parteien vereinbart, die umstrittensten Punkte nochmals zu überarbeiten. «Der politische Prozess ist offen und es wird auf jeden Fall Veränderungen geben. Wie schnell sie kommen, hängt vom Ausgang des Referendums und vom Widerstand der Gegner ab», sagt Boddenberg.