Seit Februar lebt die 16-jährige Anastasija in Kiew. Zuvor wurde sie während vier Monaten gegen ihren Willen auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim festgehalten.
«Ich habe mich auf der Krim gefürchtet, die Stimmung hat mir gar nicht gefallen. Wenn ich ein paar Worte auf Ukrainisch sagte, wurde ich angeschaut: Wer bist denn du?», erinnert sie sich.
Ursprünglich stammt Anastasija, oder kurz Nastja, aus der südukrainischen Stadt Cherson. Ihre Heimatstadt wurde in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges besetzt.
Sie hat die Besetzung durch die russische Armee während mehrerer Monate miterlebt: «Du sitzt bei dir zu Hause und dann plötzlich Bumm, eine Explosion», erzählt sie. «Es bricht Panik aus und du bekommst Angst.»
Ein Ferienlager zum Schein
Die Gefahr in den Regionen nahe der Front wird von der russischen Besatzungsmacht ausgenutzt: Eltern werden davon überzeugt, ihre Kinder nach Russland oder tiefer in die besetzten Gebiete bringen zu lassen.
Meine Mutter musste ein Dokument unterschreiben und am nächsten Tag wurden wir auf die Krim gefahren.
Laut Anastasija liess man ihrer Mutter keine Wahl: «Ich wollte nicht auf die Krim fahren, aber wir wurden gezwungen. Meine Mutter musste ein Dokument unterschreiben und am nächsten Tag wurden wir auf die Krim gefahren.» Der Aufenthalt wurde als Ferienlager für zwei Wochen angepriesen – daraus wurden vier Monate.
Nach der unfreiwilligen Abreise von Anastasija wird die Stadt Cherson im November von der ukrainischen Armee befreit. Eine Rückkehr auf direktem Weg von der Krim nach Cherson ist damit ausgeschlossen. «Ich hatte den Eindruck, als wäre ich im Gefängnis gelandet.»
Betroffene sind auf Unterstützung angewiesen
Die einzige Möglichkeit für die Kinder und Jugendlichen, zurück nach Hause zu kommen, ist, von den eigenen Eltern abgeholt zu werden. Viele der Betroffenen können sich die weite Reise aber nicht leisten.
Sie erhalten Unterstützung von der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save Ukraine. Mit dieser Hilfe gelingt es auch der Mutter von Anastasija, ihre Tochter abzuholen. Ein emotionaler Moment für die 16-jährige: «Ich sah meine Mutter, umarmte sie und brach in Tränen aus.»
Heute lebt Anastasija in Kiew in einem Hostel mit anderen Kindern und Jugendlichen, die ebenfalls von Russland verschleppt worden sind. Die Unterkunft wird mit Spendengeldern von Save Ukraine finanziert.
Wenn sie zurückkehren, sind sie voller Misstrauen gegenüber allem, was um sie herum passiert.
Vor Ort gibt es Unterstützung durch die Psychologin Olena Kapustiuk. In einem ersten Schritt wolle sie ein Grundvertrauen zurückgeben: «Wenn sie zurückkehren, sind sie voller Misstrauen gegenüber allem, was um sie herum passiert. Die Russen erzählten den Kindern, dass sie in der Ukraine niemand brauchen würde.»
Viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen stammen aus prekären Familienverhältnissen. Auch die Lebensumstände von Anastasija sind nicht einfach: Ihr Vater ist vor mehreren Jahren gestorben und ihre Mutter hat sich entschieden, nach Cherson zurückzukehren und nicht mit Anastasija im Hostel zu leben.
Auf Seiten der NGO Save Ukraine ist die Zuversicht gross, dass in absehbarer Zukunft eine grössere Zahl an verschleppten Kindern zurück in die Ukraine gebracht werden kann. «Jetzt wird das Thema weltweit diskutiert und ich denke, dass nun Programme geschaffen werden, um die Frage zu lösen», so Sprecherin Olha Jerochina in Kiew.
Ihre eigene Zukunft sieht Anastasija in der Ukraine. Egal, ob in Kiew, Cherson oder einer anderen Stadt des Landes. Sie fühle sich überall in der Ukraine zu Hause.