«Wer ist das?», fragten sich viele an der Ukraine-Konferenz im Juni auf dem Bürgenstock, als beim Gruppenfoto der hochgewachsenen Andrij Jermak in der ersten Reihe stand, gleich neben Bundespräsidentin Viola Amherd.
Jermak hat bei der Organisation des Gipfels eine entscheidende Rolle gespielt, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski schickt ihn regelmässig auf wichtige aussenpolitische Missionen, Jermak ist faktisch der oberste Diplomat. Und auch in der Innenpolitik und bei der Besetzung von Kaderposten kommt niemand an ihm vorbei. Es ist eine Machtballung, die Fragen aufwirft.
Jermak hält Selenski den Rücken frei
«Jermak ist der wichtigste Vertraute von Präsident Selenski und der zweitmächtigste Mann im Land», sagt der ukrainische Politologe Oleh Saakjan. Selenski, der frühere Comedystar und Schauspieler, hat nach seinem Amtsantritt auf seine früheren Weggefährten zurückgegriffen, aber auch auf seine Erfahrungen in der kreativen Szene. «Jermak erfüllt die Rolle des Produzenten unter der Leitung des Regisseurs Selenski», sagt Saakjan.
Der Regisseur gebe die grossen Linien vor und treffe die Entscheidungen, der Produzent setze diese konkret um und halte dem Regisseur den Rücken frei. So hat Jermak sich unentbehrlich gemacht.
Der Politologe Wolodimir Fessenko sagt ergänzend: Der Vorwurf, dass Jermak an der Stelle von Selenski führe, stimme nicht. Tatsächlich übergebe ihm der Präsident viele Dossiers, so könne er sich auf das konzentrieren, was ihm besonders liege und wichtig sei. Ausserdem stelle sich Jermak nie gegen Selenski.
Die Verwaltung hat grossen Spielraum
Fessenko gibt aber den Kritikern recht, die die Machtfülle von Jermak kritisieren: Es existiere kein Gesetz, das die Präsidialverwaltung reguliere, ganz im Unterschied zu Parlament und Regierung. Das gebe der Verwaltung einen grossen Spielraum, ohne dass sie dafür Verantwortung übernehmen müsse. Das und die Machtballung in Jermaks Händen sei das Hauptproblem.
Die Geheimniskrämerei führt zu Gerüchten und zu negativen Gefühlen in der Bevölkerung.
Der ukrainische Journalist Roman Kravets, der für ein Porträt von Jermak mit zahlreichen Personen in Verwaltung und Regierung gesprochen hat, bezeichnet Jermak als eine Art Anti-Helden.
Er sei eine Figur, die alles Negative auf sich ziehe und Präsident Selenski abschirme, der nach wie vor hohe Zustimmungswerte geniesse: «Wir haben den Präsidenten gewählt, er ist in dieser existenziellen Kriegssituation der Oberkommandierende. Aber die Funktion von Jermak ist unklar, man weiss lediglich, dass er Aufträge erhält, aber wie er sie ausführt, ist nicht bekannt. Und diese Geheimniskrämerei führt zu Gerüchten und zu negativen Gefühlen in der Bevölkerung.»
Ursprünglich nur der Terminplaner
Aus der Machtballung in der Präsidialverwaltung ist eine Grauzone entstanden, die sich der politischen Kontrolle entzieht und immer weiter wächst. Demokratiepolitisch ist das ein Problem. Ausserdem berichten Medien von Zensurversuchen von Seiten des Büros des Präsidenten.
Doch Präsident Selenski kommt ganz offensichtlich ohne Jermak nicht mehr aus. Und so ist der Mann, der ursprünglich lediglich den Terminplan des Präsidenten koordinierte, zur grauen Eminenz geworden: unentbehrlich für den Chef, aber von der Bevölkerung misstrauisch beäugt und mit einer zweifelhaften Legitimität ausgestattet.