Prunkvolle, futuristische Wolkenkratzer prägen die Innenstadt der kasachischen Hauptstadt Astana. Ausserhalb des Stadtzentrums hat Bolat Nurgaliew sein Büro. Der 72-Jährige war Botschafter und Vizeaussenminister Kasachstans. Er war bei einem Schlüsselmoment am Ende des Kalten Krieges dabei.
Die sowjetische Armee hatte mehr als tausend atomare Sprengköpfe auf kasachischem Boden stationiert. Nach Ende des Kalten Krieges wurden sie zum Eigentum des unabhängigen Kasachstans. Im Geiste der internationalen Abrüstung willigte die kasachische Regierung ein, diese Sprengköpfe abzugeben. Nurgaliew arbeitete an den entsprechenden Verträgen mit.
Bevölkerung wehrte sich gegen Atomwaffen
Kasachstan habe auf die Stimmung in der Bevölkerung reagiert, so Nurgaliew. In den späten 1980er-Jahren bildete sich eine breite Bürgerbewegung gegen Atomwaffen und die Atomwaffentests, die das sowjetische Militär auf kasachischem Boden durchführte. Die Bewegung war eine der ersten zivilen Aufstände der späten UdSSR. Und sie war erfolgreich.
Mit der Abgabe der Atomwaffen konnten wir uns als vernünftig und berechenbar präsentieren.
Nurgaliew räumt ein, dass hinter der Abrüstung auch realpolitisches Kalkül stand. «Wir waren ein neuer Staat, ein neues Mitglied der internationalen Gemeinschaft, und wir wollten einen guten ersten Eindruck machen», sagt er. «Mit der Abgabe der Waffen konnten wir uns als vernünftig und berechenbar präsentieren.»
Der junge kasachische Staat stand auch unter erheblichem Druck. «Man sagte uns, wenn ihr eure Waffen nicht abgebt, wird keiner in Kasachstan investieren, dann seid ihr isoliert», erzählt Nurgaliew. «Damals dachten wir zudem, dass uns wirtschaftliche Verbindungen vor einem Angriff schützen. Also war es sinnvoll, den ausländischen Partnern entgegenzukommen.»
Und es lauert der russische Bär
Bislang ist der Plan aufgegangen. Die friedliche Abrüstung gehört heute zur stolzen Gründungserzählung Kasachstans. Regierungen und Konzerne aus aller Welt kaufen hier Rohstoffe, vor allem Öl und Gas. Sie haben so geholfen, Kasachstan zur stärksten Wirtschaft Zentralasiens zu machen – und die pompösen Wolkenkratzer der Hauptstadt zu bauen.
Doch Russlands Angriff auf die Ukraine hat unangenehme Fragen aufgeworfen. Denn neben Kasachstan verzichteten auch die Ukraine und Belarus auf ihre sowjetischen Atomwaffen. Dafür bekamen sie 1994 von den Grossmächten Zusicherungen, ihre Sicherheit werde gewährleistet. Russland hat diese Versprechen nun gebrochen.
In Astana wird deshalb heute genau beobachtet, was in der Ukraine geschieht. Kasachstan teilt eine fast 8000 Kilometer lange Grenze mit Russland. Entlang dieser Grenze leben auf kasachischer Seite viele ethnische Russinnen und Russen, einige russische Politiker haben bereits territoriale Ansprüche geäussert.
Keiner konnte 1994 wissen, was 30 Jahre später passieren würde.
Auf die Frage nach der Gefahr eines russischen Angriffs hält sich Bolat Nurgaliew zurück. Er berät die kasachische Regierung bis heute. Diese hält Russland auf Distanz, will Moskau aber wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine aber nicht eindeutig verurteilen. Nurgaliew steht aber zur Abrüstung in Kasachstan.
«1994 waren alle begeistert von einer friedlichen Zukunft ohne Blockkonfrontation. Keiner konnte wissen, was 30 Jahre später passieren würde», sagt er. Damals sei die Abrüstung schlicht logisch und unvermeidlich gewesen – auch für diejenigen, die schon damals Bedenken hatten.