Wenn sich die Nato kommende Woche in Washington zum Gipfel trifft, tut sie das im Bewusstsein, so bedeutend zu sein, wie sie es jahrzehntelang nicht mehr war. Grund dafür sei die Aggressivität der Kreml-Führung, sagt die US-Spitzendiplomatin Rose Gottemoeller.
SRF News: Auf dem Nato-Gipfel in Washington wird auch das 75-jährige Bestehen der Allianz zelebriert. Gibt es Grund zum Feiern?
Rose Gottemoeller: Für die Nato als Institution gibt es gute Gründe zum Feiern. Das Militärbündnis hat es geschafft, die Ukraine massiv zu unterstützen, damit sie der russischen Aggression trotzen kann. Gleichzeitig konnte die Nato verhindern, direkt in diesen Krieg hineingezogen zu werden. Das war eine schwierige Gratwanderung. Dass sie es schaffte, unterstreicht ihre Bedeutung als Sicherheitsgarantin.
Aufgrund der russischen Aggression fand die Nato wieder zu grosser Einigkeit. Doch wird diese Einigkeit anhalten?
Ich glaube ja, jedoch mit Nuancen. Wir sehen am Beispiel von Ungarn und dessen Regierungschef Viktor Orbán, dass nicht alle Nato-Mitglieder die Unterstützung der Ukraine mittragen. Bisher war die Nato imstande, bis zu einem gewissen Punkt unterschiedliche Sichtweisen zu akzeptieren.
Wir sehen nicht das geringste Signal für ein russisches Einlenken – das ist das ganz grosse Problem.
Wladimir Putin glaubt weiter an einen russischen Sieg und ist überzeugt, der westliche Rückhalt für Kiew halte nicht so intensiv und so lange wie nötig an …
Das ist richtig: Putin ist absolut entschlossen, diesen Kampf weiterzuführen und ist überzeugt, dass er gerechtfertigt ist. Wir sehen nicht das geringste Signal für ein russisches Einlenken und für ernsthafte Verhandlungsbereitschaft. Das ist das ganz grosse Problem. Die Angriffe auf ukrainische Städte wie Charkiw oder Kiew dauern unvermindert an. Diese Entschlossenheit kommt von ganz oben, von Putin selber.
Sie haben als US-Chefunterhändlerin mit «New Start» das vorläufig letzte Abrüstungsabkommen mit Russland ausgehandelt. Gibt es das Russland noch, mit dem sie damals verhandelt haben?
Es existiert noch in Personen. Einige gehören gar zur aktuellen Regierung in Moskau oder zu deren Umfeld. Manche sind weiterhin überzeugt, gerade im Nuklearbereich seien Vereinbarungen mit den Amerikanern nötig. Es brauche Grenzen, es brauche Berechenbarkeit.
Momentan sind neue Atomverhandlungen undenkbar. Doch in Zukunft muss und wird es wieder möglich sein.
Nachdem die USA aktuell ihre Atomstreitkräfte modernisieren, liegt das auch im russischen Sicherheitsinteresse. Doch momentan sind neue Atomverhandlungen undenkbar. Die politischen Barrieren in Moskau sind zu hoch. Doch in Zukunft muss und wird es wieder möglich sein.
Wie ernst müssen wir die russischen Drohungen nehmen, auch Atomwaffen einzusetzen?
Wir müssen das ernst nehmen. Es ist verantwortungslos, mit Atomwaffen zu drohen, welche die ganze Menschheit vernichten könnten. Ernst nehmen bedeutet aber nicht, in Panik zu verfallen. Wir verfolgen sehr genau, was in Russland im Nuklearbereich tatsächlich passiert. Vorläufig gibt es keine grundsätzlichen Veränderungen. Wir müssen aber äusserst wachsam bleiben und gleichzeitig unsere Entschlossenheit demonstrieren.
Bevor Russland nicht zu den Prinzipien der UNO-Charta zurückkehrt, ist eine normale Beziehung mit Moskau sehr schwierig.
Sehen Sie in absehbarer Zeit eine Chance für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen?
Vielleicht in der nächsten Generation. Wir erleben momentan eine Phase ausschliesslich negativer Interaktionen mit Moskau. Das wird wohl noch länger so sein. Russland bedroht mit seiner Aggressivität Europa. Es verletzt krass zentrale Prinzipien der UNO-Charta, obschon es sich angeblich zu diesen bekennt. Bevor Russland nicht zurückkehrt zu diesen Prinzipien, ist eine normale Beziehung sehr, sehr schwierig.
Das Interview führte Fredy Gsteiger.