Es schien fast, als ob Jacinda Ardern das Ergebnis selbst kaum glauben konnte. Den Tränen nahe wandte sich die Ministerpräsidentin Neuseelands am späten Samstagabend an ihre Anhänger, sichtlich gerührt von der enormen Unterstützung, die sie und ihre Labourpartei an der Wahlurne erfahren hatten. «Das Ergebnis von heute Abend gibt Labour ein sehr starkes und klares Mandat», meinte sie.
Der Klotz am Bein ist weg
Ein Mandat für den deutlichen Ausbau ihrer ohnehin schon progressiveren Politik. Der bisherige Hemmblock ist weg: Die Partei NZ First, die gemeinsam mit Labour und den Grünen seit 2017 das Land in einer Koalition regiert hatte, scheiterte an der Fünfprozenthürde.
Die nationalistische, sozial-konservative Partei unter ihrem Führer Winston Peters war in den letzten Jahren von Kommentatoren dafür verantwortlich gemacht worden, dass Ardern wichtige Versprechen nicht einhalten konnte: eine signifikante Reduktion der Kinderarmut, den Bau von Tausenden von Sozialwohnungen, ein entschiedenes Einschreiten gegen die Klimaerwärmung.
Politikerin mit Charisma
Labour schnappt sich nun 64 der 120 Sitze im Einkammerparlament. Dieses stärkste Wahlergebnis seit 50 Jahren wird Labour ermöglichen, politisch umzusetzen, was immer Ardern will. Es steht Labour frei, ohne einen Koalitionspartner zu regieren. Trotzdem kündigte Ardern an, mit den Grünen über eine Koalition sprechen zu wollen.
Umfragen hatten schon länger auf einen Sieg von Labour und Ardern schliessen lassen. Selbst ihre schärfsten Kritiker loben das Kommunikationstalent der ehemaligen Imbissbudenverkäuferin und studierten Politologin, ihren Zugang zu den Leuten auf der Strasse, ihre «Normalität».
Jacinda Ardern besteht aber nicht nur aus Charisma. Sie hatte sich vor allem in Krisenzeiten profiliert. Neuseeland ist heute praktisch covidfrei. Experten führen dies auf den Umstand zurück, dass es der 40-jährigen Ministerpräsidentin gelungen war, das Volk von der Notwendigkeit eines frühen und harten Lockdowns zu überzeugen.
Ihre Worte der Versöhnung nach dem Attentat in Christchurch im März 2019, bei dem ein Rechtsextremer 51 Muslime erschossen hatte, sind heute ein Paradebeispiel für eine Politik des Mitgefühls.
Grosse Herausforderungen warten auf Ardern
Ardern wird in den kommenden Monaten ihr gesamtes Talent brauchen, um die Menschen Neuseelands weiter zusammenzuführen. Die Coronakrise hat auch Neuseeland in eine Rezession gestürzt. Der entscheidende Wirtschaftsfaktor Tourismus ist als Folge der Schliessung der Landesgrenzen praktisch stillgelegt. Arbeitslosigkeit, kombiniert mit anhaltend bitterer Armut in Teilen der Bevölkerung, und der extreme Mangel an bezahlbarem Wohnraum – diese Faktoren bedrohen die wirtschaftliche Existenz und die Lebensqualität von Millionen Menschen.
Beobachter rechnen damit, dass Ardern nicht nur Programme zur Verbesserung der sozialen Situation vorantreiben wird. Ein wichtiger Fokus der Premierministerin ist auch der Kampf gegen die globale Erwärmung.